Autoerotisch: Agathe Rousselle in »Titane«

Wille zur Eskalation

Kontrolliert wurde alles – nur nicht die Coronaregeln. Aber auf der Leinwand hat das 74. Film Festival von Cannes ein herausragendes Programm geboten

Der Kontrast hätte kaum größer sein können: Bei der Sommer-Berlinale im Juni waren Vorführungen für ein lokales Publikum nur Open Air mit großem Sicherheitsabstand zwischen den Plätzen möglich. Etwas mehr als zwei Wochen später findet das Film Festival von Cannes mit einem Publikum aus aller Welt statt, in den Kinos, ohne Sicherheitsabstand und in den meisten Sälen ohne eine vorherige Testpflicht. Einzige Bedingung: In Innenräumen galt Maskenpflicht.

Wer gedacht hatte, dass diese – wie etwa letztes Jahr in Venedig – auch streng kontrolliert werde, sah sich allerdings getäuscht. Bis zu fünf verschiedene Kontroll- und Sicherheitsschleusen muss man passieren, um in Cannes einen Saal zu betreten. Einmal dort angekommen, wurde allerdings dieses Jahr allerdings fast ostentativ weggeguckt. Wer sich wie ich bei einer Vorführung von Maskenverweigerern umgeben sah, die auch nach höflicher Bitte nicht bereit waren, ihre Maske anzuziehen, fand weder im Saal noch im Foyer jemand vom Festival, der hätte helfen können.

Dazu passte, dass bei weniger stark besuchten Vorführungen die Balkonränge der Kinos geschlossen wurden, sodass sich das Publikum im Parkett drängeln musste – das sieht für anwesende Filmteams natürlich besser aus und man muss hinterher auch weniger putzen und aufräumen. Zudem galt zwar offiziell in den Schlangen vor den Kinos ein Abstandsgebot von einem Meter, wenn diese aber zu lang wurden, wurde man aufgefordert, dichter zusammenzurücken.

Exklusion statt Inklusion

Offiziell registrierte das Testzentrum des Festivals eine Hand voll Corona-Fälle am Tag – immerhin konnte jeder Akkreditierte sich täglich gratis testen lassen. Da man aber das ganze Festival über im Kino sein konnte, ohne auch nur einmal einen Test vorzuweisen, dürfte diese Zahl wenig aussagekräftig sein.

Das Festival verwies darauf, dass man die staatlichen Corona-Regelungen für den Kinobetrieb einhalte. Die Frage ist allerdings, ob sich ein Festival wie Cannes mit dem Kinoregelbetrieb vergleichen lässt: was die Auslastung der Säle betrifft, die Internationalität des Publikums und natürlich auch die Frequenz der Kinobesuche: Welcher normale Kinogänger würde schon um die vierzig Vorführungen in weniger als zwei Wochen besuchen?

Das passt zu einem Festival, das sich wenig um Sympathiewerte und Inklusion kümmert und stattdessen auf Hierarchien und Exklusivität setzt. Das kann es sich leisten, so lange das Programm stimmt: Das heißt, so lange das Festival aus den besten Produktionen eines Jahrgangs frei auswählen kann. Und da lässt sich sagen: An guten Filmen von prominenten Namen mangelte es gewiss nicht – zumal das Festival dieses Jahr durch den coronabedingten Ausfall im letzten Jahr noch einige Filme präsentieren konnte, die bereits letztes Jahr fertiggestellt waren.

Progressiver Anschein

Und durch die Preisverleihung hat sich das Festival am Ende auch einen progressiveren Anschein geben können, als es das Wettbewerbsprogramm in der Gesamtschau hergegeben hat. Die Goldene Palme für Julia Ducournaus »Titane« – erst der zweite Film einer Regisseurin, der in der über 70-jährigen Geschichte des Festivals mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde – ist eine mutige Entscheidung der Jury um Spike Lee. Der Film entspricht formal so gar nicht den üblichen Gepflogenheiten des Festivalfilms: Statt auf Realismus, langsame Erzählweise und Subtilität setzt die 37-jährige Französin auf Überzeichnung, Rasanz und Provokation.

Im Mittelpunkt steht Alexia, der nach einem Autounfall als Kind eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt wurde. Als erwachsene Frau schlägt sie sich als Erotikmodel auf Autoshows durch – und bringt nebenbei alle Männer und Frauen um, die ihr sexuell nahekommen. Als sie droht, erwischt zu werden, nimmt sie eine neue Identität an: Die eines jungen Mannes, der seit Jahren vermisst ist. Die glaubwürdige Annahme der neuen Geschlechteridentität wird ihr auch noch dadurch erschwert, dass Alexia schwanger ist und ein Bauch sich schon deutlich abzeichnet. Das ist nur der Anfang einer Geschichte, die völlig unvorhersehbare Wendungen nimmt. Der Body Horror eines David Cronenberg trifft sich darin mit viel Queerness und einem unbedingten Willen zur Eskalation. Da wirkte im Vergleich selbst Paul Verhoevens lesbische Nonne Benedetta mit ihrer zum Dildo umgeschnitzten Marienfigur zahm.