Die Dauer der Distanz
Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Mit einem Inzidenzwert, der zeitweise unter zehn lag, erreichte die Kölner Feierwütigen eine Nachricht, mit der in diesem Jahr eigentlich niemand mehr gerechnet hatte. Die Kunde von der Wiedereröffnung des Clubbetriebs ab September »bei einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von unter 35« verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schmückte als Sahnehäubchen die rasante und enthemmte Öffnungswelle der Gastronomie in den letzten Wochen.
Es war ein Schritt, der auch andere Kulturbranchen mit Zuversicht ansteckte. Der zügige Impffortschritt in Kombination mit den sinkenden Zahlen speiste für einen kurzen Moment die trügerische Hoffnung, die Pandemie fast überwunden zu haben. Doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer.
So kristallisiert sich heraus, was insgeheim doch schon alle eisernen Realist:innen vermutet hatten: Angesichts der schnell wieder steigenden Infektionszahlen und der erwarteten vierten Welle wird die Aussicht auf einen unbeschwerten Herbst dunkler und dunkler. So schleicht sich die altbekannte Unsicherheit wieder in den Alltag der Kölner Veranstaltungslandschaft als wäre sie nie fort gewesen. Mit welchen Erwartungen und Plänen können Konzert- und Partyveranstaltende unter diesen Umständen überhaupt in den Herbst gehen? Und darüber hinaus: Wird sich die Feier- und Konzertkultur dauerhaft verändern?
Vor einem Jahr konnte Christoph Lindner vom Sonic Ballroom noch nicht sagen, ob der Club in Ehrenfeld 2021 noch existieren würde. Doch der Sonic Ballroom bleibt standhaft. Mittlerweile werden jedes Wochenende draußen, im Biergarten, stets ausverkaufte Akustik-Konzerte veranstaltet. Als Indoor-Konzept für Konzerte hat der Sonic Ballroom seinen Innenbereich komplett umgestellt. Das bedeutet reduzierte Besucher:innenzahlen, Bestuhlung, die Bühne wird in die Mitte gestellt und das Publikum im ausreichenden Abstand herum verteilt. Punk geht anders. Aber es gibt derzeit keine Alternative. Diese arrangierte Raumaufteilung hat einen emotionalen Zweck, der über die Einhaltung der Hygienebestimmungen hinausgeht: »Damit die Menschen sich nicht nur wehmütig daran erinnern, dass der Stuhl dort steht, wo früher noch gepogt wurde, wollten wir das Setting grundlegend verändern und neue Ausgangsbedingungen schaffen«, so Christoph Lindner. Also keine schmerzhafte Nostalgie aufkommen lassen, nicht versuchen, dem »Früher« nachzueifern, etwas Neues schaffen. Fühlt sich das Team des Sonic Ballroom gewappnet für den Herbst? »Wir buchen Bands für Konzerte, aber wir können noch nicht absehen in welcher Größenordnung wir diese durchführen können. Man plant eben von Woche zu Woche. Letzten Endes hängt es von den Zahlen und den Verordnungen ab.«
Doch selbst wenn die Veranstaltungen stattfinden können, das Gefühl wird trotzdem nicht das selbe sein, da ist sich Lindner sicher: »Der Ballroom und seine Konzerte lebten immer von Enge, Kontakt und Bierduschen. Und wenn das nicht zurück kommt, wird das auf Dauer ein vollständig anderer Laden.«
Es gibt andere, die eine potentielle Absagewelle im Herbst lieber gar nicht erst riskieren wollen. Benjamin Ketzel ist zur Stelle, wenn auf Kölner Bühnen die Nachfrage nach spannenden Musiker:innen besteht. Er veranstaltet seit vielen Jahren Konzerte in der ganzen Stadt, unter anderem im Gebäude 9 und im Artheater. Derzeit kuratiert er seine Konzertreihe »Schöne neue Normalität« im Außenbereich des Bumann & Sohn. Aus Prävention bucht Benjamin Ketzel für den Herbst keine neuen Konzerte: »Die Unsicherheit bestand von Anfang an. Wir haben für den Sommer ein extrem volles Programm, da gibt es im Moment noch alle Hände voll zu tun. Und im Herbst stehen dann nur noch die Sachen an, die aus dem letzten Jahr verschoben wurden und bereits seit langem feststanden.« Verständlich.
Irgendwann ist man es eben auch leid, Konzerte immer wieder aufzuschieben, den Bands immer wieder abzusagen. Ketzel setzt seine Hoffnungen auf das Frühjahr 2022. Dies sei bereits komplett ausgebucht, auch weil sich immer noch laufend Konzerte weiter in die Zukunft verschieben. Ob man bei zukünftigen Konzerten die Distanz, die strenge Hygieneregeln mit sich bringen, betrauert hängt laut Ketzel auch vom Genre ab: »Bei Jazz- oder Beatgruppen macht man weniger Abstriche und kann den Flair auch bei geringerer Auslastung erhalten, bei Noise Bands und tanzbaren Acts ist es aber schwierig, diese körperliche Komponente zu ersetzen.«
Wie sich das Erlebnis von Partys und Livemusik in Zeiten einer Pandemie verhält, darüber hat sich auch Jens Ponke schon früh Gedanken gemacht. Auf Ponke stößt man umgehend, wenn man sich die Kölner Kulturlandschaft betrachtet. Er ist unter anderem Betreiber der »Wohngemeinschaft«, Vorstandsmitglied in der Klubkomm, und Mitveranstalter des beliebten Kopfhörer-Festivals »At the B-Sites« und vom Ehrenfeld Hopping. In Pionierarbeit für alternative, coronakonforme Kulturevents rief er zusammen mit der Klubkomm den Cologne Culture Stream mit seinen umfangreichen Angeboten ins Leben. Darüber hinaus veranstaltete auf der »Summer Stage« im Jugendpark, als eine der ersten großen Outdoor-Konzertbühnen, letzten Sommer fünfzig Konzerte.
Jens Ponkes neuster Streich pandemiegerechten Feierns ist eine dreiteilige Partyreihe mit Kopfhörern im Jugendpark und am Offenbachplatz. Tanzen in Parzellen in einem Doppeldecker-Bus. Ist das die vielbeschworene neue Realität? Ein Ansatz vielleicht, aber erst mal ein Sommerereignis, den Herbst muss auch das Team der Wohngemeinschaft abwarten. Ponke schmerzt vor allem der Verlust der Spontanität: »Alles muss geplant und rückverfolgbar sein. Man büßt viel von Freiräumen und Hedonismus ein und unterscheidet sich kaum noch von fest geregelten Strukturen des Alltags, denen man nachts eigentlich entfliehen will.« Er zeigt sich jedoch optimistisch, obwohl ihm klar ist: Man kann die Vor-Pandemie-Zeit eben nicht mehr mit Gegenwart und Zukunft ins Verhältnis setzen. »Man kann zumindest Teile dieser Spontanität erhalten, auf die sollte man sich fokussieren. Auf Sicht fahren haben wir alle mittlerweile gelernt. Irgendwann wird man hoffentlich bei gegeben Umständen wie zum Beispiel einer hohen Impfquote bestimme Barrieren aufheben können. Aber natürlich wird uns die Infektionsthematik beim Feiern dauerhaft begleiten.«
Die Veranstaltungen stehen weiterhin unter der Knechtschaft des Infektionsgeschehens. Die große Unsicherheit besteht fortlaufend, planen kann niemand. Es sieht so aus als müssen wir uns dauerhaft an eine neue Form des Feierns gewöhnen, so wie wir uns eben an alles andere Unvorstellbare gewöhnt haben, das die Corona-Pandemie mit sich gebracht hat.
Klar ist: Das Virus wird bleiben. Wir befinden uns im schleichender Übergang vom Provisorium in die neue Normalität. Umso wichtiger ist der Erhalt unserer kulturellen Einrichtungen. Denn auch eine neue Realität braucht Freiräume und Hedonismus, auch wenn sie dafür einmal durch die Luftfilteranlage müssen.