Super Jazz Köln Style

Mal wieder kulturelle Dissonanzen am Rhein: Köln ist Jazz-Stadt, und das nicht erst seit gestern. Die Szene ist dynamisch und offen, etliche Musiker*innen ziehen nach Köln, um hier Jazz zu spielen. Die Spielstätten von Loft bis Stadtgarten sind bestens eingeführt. Aber ein repräsentatives Festival gab es bislang nicht. Das soll sich mit der Cologne Jazzweek ändern. Auf den folgenden Seiten stellen wir das neue Festival und seine Protagonisten vor: Martin Laurentius erzählt, wie Köln zur Jazz-Stadt wurde, Lars Fleischmann hat sich mit der Sängerin Rebekka Ziegler getroffen, einer der Kurator*innen des Festivals, Felix Klopotek porträtiert den Ausnahmeschlagzeuger Christian Lillinger. Und zum Abschluss: unsere Festival-Highlights. Die Fotostrecke stammt von Jennifer Rumbach, sie fotografierte Jazzmusiker*innen aus Köln, die auch auf dem Festival auftreten werden.

Cologne Jazzweek, 28.8. bis 4.9.

Das Festival präsentiert über 24 (Doppel-)Konzerte in den einschlägigen Spielstätten: Stadtgarten und Loft stehen an erster Stelle, aber auch King Georg, Artheater, Club Bahnhof Ehrenfeld, Alte Feuerwache, Jaki, Altes Pfandhaus, der Ebertplatz und die Agneskirche werden dabei sein. Das Abschlusskonzert findet im Konzertsaal der Hochschule für Musik und Tanz Köln statt, ein sym­bolischer Ort. Denn von der Hochschule ging vor 45 Jahren die Gründung einer neuen, stilistisch eigenständigen Kölner Jazz-Szene aus, die schließlich zur Gründung der Kölner Jazz Haus Initiative führte. Bis heute hat sie ihren Sitz im Stadtgarten.

Die Cologne Jazzweek geht aus einer Initiative der Kölner Jazzkonferenz hervor, dem Zusammenschluss der hiesigen Jazzmusiker*innen. Sie soll keine Nabelschau sein, vielmehr gilt es, heraus­ragende Musiker*innen und Gruppen einzuladen, um sie vor Ort mit Musiker*innen aus der ­Stadt zusammenzubringen. Das Festival, ursprünglich schon für 2020 geplant, wird für die Jahre 2020 und 2021 mit jeweils 150.000 Euro von der Stadt gefördert. Das Kuratorium besteht aus­schließlich aus Musiker*innen: Friederike Darius, Thomas Gläßer, Gareth Lubbe und Rebekka Ziegler, die (von einer Ausnahme abgesehen) selber nicht auftreten werden. Künstlerischer Leiter ist der Posaunist Janning Trumann. Weil nicht sicher ist, wie sich die Corona-Pandemie auf die Konzertsituation auswirken wird, werden Konzerte auch gestreamt: Public Streaming im Greenroom des Stadtgarten und unter jazzstadt.de

 

Der Kölner Stil

Seit der Gründung der Initiative Kölner Jazz Haus 1978 und der Eröffnung des Stadtgartens 1986 ist der Jazz in Köln stets auch kulturpolitisch. Davon profitiert die Szene mit ihren Musiker*innen und Veran­stalter*innen enorm. Oft und gerne wird auf den »Wettkampf« zwischen den Jazzszenen in Berlin und Köln hingewiesen. Anfang 2020 hatte die Hauptstadt mal wieder aufhorchen lassen, als  die Senatsverwaltung für Kultur und Europa mitteilte, dass Till Brönners Idee eines »House Of Jazz Berlin« nach einem mehrjährigen Entwicklungsprozess mit der IG Jazz Berlin und der Deutschen Jazzunion endlich als »Zentrum für Jazz und improvisierte Musik« realisiert werden soll — allerdings erst 2026 nach dem Umbau der dafür vorgesehenen Alten Münze in Berlin-Mitte. Dann also, wenn der Stadtgarten in Köln den neunten Geburtstag des »Europäischen Zentrums für Jazz und aktuelle Musik« feiern wird.

Was den kulturpolitischen Anspruch betrifft, hat die Kölner Jazzszene die Nase vorn. Da sind nicht nur der Stadtgarten und das »Europäische Zentrum für Jazz und aktuelle Musik« zu nennen, sondern auch das Loft, die Kölner Jazzkonferenz als Interessenvertretung der Szene insgesamt, das Exzellenzförderprogramm »NICA Artist Development« des Landes NRW oder die Jazzabteilung der Hochschule für Musik und Tanz Köln, die seit diesem Frühjahr mit der Sängerin Anette von Eichel die erste Frau an der Spitze eines Jazzstudiengangs hat. »Wir als Kölner Jazzkonferenz versuchen tunlichst zu vermeiden, Konflikte und Streitigkeiten nach außen zu tragen«, ist Janning Trumann, Posaunist und Vorstand der
Kölner Jazzkonferenz, überzeugt. »Wir schaffen es, alle Akteure wie Veranstalter, Musiker oder Journalisten, die mit Jazz und improvisierter Musik in der Stadt zu tun haben, an einen Tisch zu bringen und politisch zu vertreten. Da hat es Berlin schwerer, weil die Szene in der Haupt­stadt größer und dezentraler organisiert ist als die hier in Köln.«

Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre hat Jazz in Köln stets auch eine kulturpolitische Perspektive eingenommen. 1978 richtete Manfred Niehaus die WDR-Jazzredaktion neu ein, es gab damals schon ein Jazzvollstudium an der Musikhochschule, zudem lebten und arbeiteten zahlreiche Profimusiker in der Stadt. »Wie andernorts war der Jazz aber das Kellerkind der Musikkultur«, so Ulrich Kurth, nach Niehaus’ Pensionierung 1990 verantwortlicher WDR-Jazzredakteur. Außer dem Subway, einer Diskothek, in der einmal pro Woche durchreisende amerikanische Jazzmusiker*innen spielten, gab es keine weiteren Auftrittsmöglichkeiten in der Stadt. Und Köln wurde damals seit Jahren von einer großen Koalition regiert, die kein Interesse an sogenannten »freien«, nicht-städtischen Kulturaktivitäten hatte.

Deshalb riefen 1978 einige Studierende der Jazzabteilung der Musikhochschule die Initiative Kölner Jazz Haus (IKJH) ins Leben, die »ein brodelndes Zusammenkommen von gesellschaftlicher Kritik, politischem Unmut und kulturellem Randdasein war, das ein Ventil suchte«, wie es in der Studie »Musik Life — Die Spielstätten für Jazz und Aktuelle Musik in Nordrhein-Westfalen« heißt. Von Anfang an traten die jungen Musiker aber nicht als Bittsteller auf. »Wir wollten in der Kölner Kulturpolitik nicht einfach nur mitmischen. Wir wollten es vor allem besser machen«, erinnert sich der Saxofonist Norbert Stein, der zu den Gründungsmitgliedern der IKJH gehörte. »Wir wollten Strukturen schaffen, in denen die betroffenen Musiker die Vorgänge selbst bestimmten: eine eigene Bühne, ein eigenes Label, eine eigene Musikschule und mehr.«

Die IKJH schloss sich mit weiteren politischen Bürgerinitiativen in der Stadt zusammen, um eine breite außerparlamentarische Koalition gegen die lokale Politik in Köln zu bilden und von einer moralisch starken Position aus zu handeln. Diese Position zeigte sich vor allem auch beim so genannten »Kölner Jazz-Krieg«, als man Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre mit dem kommerzielle Ziele verfolgenden Jazzboard e.V. um den Stadtgarten als Veranstaltungsort konkurrierte.
»Als dieses Jazzboard kam, war das der ›Klassenfeind‹, geradezu die Inkarnation des Gegners, den man idealtypisch braucht«, so Reiner Michalke, Stadtgarten-Intendant und IKJH-Gründungsmitglied. »Als der Rat ihnen den Stadtgarten zudachte, haben wir eine Protestaktion ›Kölner Künstler‹ gemacht mit Floh de Cologne und all solchen Gruppen. Die haben uns in diesem Kampf gegen das ›Herrschende‹ unterstützt.« Als die IKJH 1982 von der Jury des damaligen Südwestfunks (SWF) unter dem Vorsitz von Joachim-Ernst Berendt den »SWF Jazzpreis« zugesprochen bekam, wendete sich auf einmal das Blatt: Der Stadtgarten wurde am 4. September 1986 eröffnet — unter der Leitung der IKJH.

Mit der IKJH formte sich auch ästhetisch mit den viel­seitigen, musikalisch breit gefächerten Projekten und Bands ein Stilhybrid, den Kurth 1996 im Fotoband »on stage — 10 Jahre Stadtgarten Köln« treffend als »Kölner Schule« bzw. »Kölner Stil« beschrieb: »Die Jazztradition und Frank Zappa im Hinterkopf, dazu eine gute Bekanntschaft mit dem Musiktheater Mauricio Kagels — das waren nach Niehaus’ Beobachtung drei Voraussetzungen für den ›Kölner Stil‹, dessen ironische Brechungen innerhalb der Jazz-Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgten.« Auf eine weitere musikalische Komponente dieses »Kölner Stils« verweist Robert von Zahn in seinem Buch »Jazz in Köln seit 1945«: »Anknüpfend an die Free-Jazz-Vorgaben der späten 60er-Jahre und in der experimentellen Suche nach persönlichen Ausdrucksformen tasteten sich Musiker wie Florian Schneider, Dieter Manderscheid, Christoph Haberer, Gerhard Veeck und viele weitere in ein Terrain vor, das in den 80er-Jahren schlicht als ›Improvisierte Musik‹ oder, mit anderem thematischen Akzent, von Seiten der Initiative Kölner Jazz Haus auch als ›Aktuelle Musik‹ begriffen werden sollte.«

»Es gibt hier in Köln eine Intensität an Jazz-Inspiration und an Flair, die mich an New York erinnert«, beschrieb der Trompeter und emeritierte Hochschul­professor Manfred Schoof einst die einmalige, kreative Atmosphäre für den Jazz in der Stadt . »Es ist nicht wie jene Großstadt selbst, aber alle jungen Musiker, die irgendwo in Deutschland spielen lernen wollen, möchten am liebsten nach Köln. Die Jazzabteilung der Hochschule ist die größte in Deutschland. Deshalb gibt es hier so
viele Musiker. Wenn ich eine Woche im Stadtgarten spielen müsste, könnte ich jeden Abend mit einer anderen Rhythmusgruppe spielen, und das würden immer erstklassige Leute sein.«

Seit seiner Eröffnung verfolgt der Stadtgarten das Konzept eines Spielortes, der auch »unablässig andere (musikalische, aber auch literarische, lokalpolitische etc.) Kontexte mit einbezieht«, wie Stadtrevue-Musikredakteur Felix Klopotek schon 1998 in »Jazz in Nordrhein-Westfalen seit 1946« eine der Funktionen des Stadtgartens beschrieb. Die bis Mitte der 90er Jahre stattfindenden Jazz Haus Festivals machten zudem mit ihren stilistisch breiten Programmen den internationalen Anspruch
der IKJH und des Stadtgartens deutlich. »Schon bei der zweiten Ausgabe, 1979, kann man die für den Stadtgarten
später charakteristische Mischung aus allen möglichen avancierten Stilen sowie regionalen und internationalen Gruppen beobachten.«

Mit dem Stadtgarten öffnete zur gleichen Zeit auch die Philharmonie ihre Pforten, nur unwesentlich später begann das Loft, das sich einen Namen machte als Spielstätte für die musikalische Avantgarde und — wichtig
für die Kölner Musiker*innen — Szene-Backing war und ist. Dennoch ist das Leitungsteam des Stadtgartens die Instanz, wenn es darum geht, nicht nur die stilistische und ästhetische Vielfalt von Jazz und aktueller Musik
auf die Bühne zu bringen, sondern auch dezidiert kultur­politische Positionen zu beziehen und durchzusetzen.
Bis heute sucht man im In- und Ausland Kontakte zu vergleichbaren Initiativen und Kollektiven von Mu­siker*innen, Konzertagenturen und Spielstätten — wie beispielsweise zum Bimhuis in Amsterdam, Moods in Zürich oder Porgy & Bess in Wien, die wie der Stadtgarten auch im »Europe Jazz Network« zusammengeschlossen sind. In Deutschland gehörten die IKJH und der Stadtgarten zu den treibenden Kräften, die zur Gründung der Bundeskonferenz Jazz und des German Jazz Meetings als Leistungsschau des deutschen Jazz führte, das erstmalig 2006 im Rahmen der Bremer Jazzmesse jazzahead! stattfand.

2015 kam es dann zur Gründung des Vereins »Kölner Jazzkonferenz«. Auch auf Betreiben von Michalke vom Stadtgarten wurde der Schulterschluss aller Akteur*innen der Jazzszene gesucht. »Von Anfang an war es ihr Ziel, legitimierter Ansprechpartner für die Politik zu sein, Forderungen an die Politik und das Kulturamt der Stadt Köln zu bündeln und zu vertreten sowie die mediale Präsenz des Jazz und der improvisierten Musik in Köln zu verbessern«, heißt es auf der Website des Vereins. Ein lauter Paukenschlag war die Meldung, dass der Stadtgarten nach Wunsch und Willen der Stadt Köln und des Landes Nordrhein-Westfalen ab 2017 in ein »Europäisches Zentrum für Jazz und aktuelle Musik« umgebaut werden soll. Diese Maßnahme lassen sich die beiden Partner jährlich einen hohen sechsstelligen Betrag kosten. »Der Stadtgarten steht beispielhaft für das, was das Musik­land Nordrhein-Westfalen auszeichnet: Qualität, Offenheit und Experimentierfreude. Die Musikerinnen und Musiker aus unserem Land spielen im Jazz und in der zeitgenössischen improvisierten Musik schon heute eine bedeutende Rolle. Dieses Potential wollen wir als Land gemeinsam mit der Stadt Köln fördern«, so der NRW-
Kulturstaatssekretär Bernd Neuendorf.

Im Mittelpunkt dieses neuen Zentrums stehen Musikerinnern und Musiker der lokalen und regionalen Szene, die aber beispielsweise mit Residenzen in Austausch mit internationalen Größen gebracht werden sollen. Das vom Land NRW finanzierte und vom Stadtgarten als »Europäisches Zentrum für Jazz und aktuelle Musik« durchgeführte Exzellenzförderprogramm »NICA Artist Development« ist beispielhaft für diesen Anspruch, das aber wegen der Corona-Krise mit ihren Lockdowns nur im Ansatz umgesetzt werden konnte.

Die Cologne Jazzweek ist vielleicht das erste große und internationale Festival für Köln, steht aber in der Tradition von innovativen Festivalkonzepten, für die das Stadtgarten-Team in den vergangenen Jahrzehnten oftmals die treibende Kraft war — wie etwa das schon erwähnte Jazz Haus Festival, aber auch »Post This Neo That« oder bis 2011 als Co-Veranstalter die WDR 3 jazz.cologne. Dennoch ist es mit dem neuen Kölner Jazzfestival etwas anderes, auch da sieht Trumann einen (kultur-)politischen Aspekt: »Die Szene steht aber vor allem so gut da, weil Köln eine gute Infrastruktur hat. Durch die vielfältige öffentliche Förderung sind die Spielstätten nicht allein vom kommerziellen Markt abhängig. Das Festival ist für uns ein logischer Schritt, denn es fehlt ein Format, um die Entwicklung, die Köln genommen hat, abzubilden. Zum Glück haben die politisch Verantwortlichen das genauso gesehen, und so bekamen wir auch die nötigen finanziellen Mittel.«
Im Sommer 2009 wurde mit dem siebenköpfigen Klaeng ein Kölner Jazzkollektiv auf den Weg gebracht, das nach langer Zeit dezidiert wieder von der »Jazzstadt Köln« sprach. Jüngere Musiker wie Pablo Held, Jonas Burgwinkel, Robert Landfermann oder Frederik Köster wollten ihre Popularität dazu nutzen, um den Fokus einer nationalen wie internationalen Öffentlichkeit auf die wieder sehr lebendige junge Jazzszene zu richten: »Köln hat nicht nur aktuell eine Menge zu bieten, sondern blickt auch auf eine große Jazzgeschichte zurück — inklusive der Initiative Kölner Jazz Haus«, so der Bassist Landfermann: »In dieser Tradition stehen wir mit Klaeng.«

Der Start von Klaeng mit seinem jährlichen Festival wurde zum Impuls für einige der jungen Musiker*innen in Köln, es den sieben Klaengstern gleichzutun und sich ebenfalls in Kollektiven zu organisieren — Impakt beispielsweise mit seiner ästhetischen Ausrichtung hinein in die Avantgarde, oder das »jungeloft« mit seiner »Monday Meetings«-Konzertreihe. Dass diese Kollektive nicht nur kulturpolitisch denken, sondern sich auch von vornherein als Solidargemeinschaft betrachten, hat wohl erst den Weg mit frei gemacht für die Kölner Jazzkonferenz und auch das neue Festival Cologne Jazzweek.

Text: Martin Laurentius

 

 

 

Raus aus den Kontexten

Rebekka Salomea Ziegler ist eine der Kurator*innen der Cologne Jazz­week, vor allem ist sie aber einer der markantesten und eigenwilligsten Stimmen der hiesigen Szene

»Urban Jazz/Experimental Hip Hop/Contemporary Multi-Genre« nennt die Band Salomea ihren Sound und meint damit, dass sie die eigene Musik nicht beschreiben möchten, es aber müssen, weil Journalisten, Promoter und Booker eh immer wieder die Frage nach dem Genre stellen. Die Frage nach dem Namen der Band kann man hingegen leichter klären: Sie heißt nach der Songwriterin, Komponistin und Sängerin Rebekka Salomea Ziegler (Jahrgang 1991), es ist ihre Band, die mittlerweile zwei Alben veröffentlicht hat. Neben ihr sind dort Yanis Arft (Keyboards), Oliver Lutz (bass) und Leif Berger (Schlagzeug) zu hören. Mit dem Debüt »Salomea« (Klaeng Records, 2018) überzeugte sie große Teile der Jazz-Gemeinde, denn so frisch und cool hat Jazz-Gesang selten geklungen. Mit »Bathing In Flowers« (Yellowbird Records) griffen sie dann 2020 voll an, was zwei Nominierungen für den frisch ins Leben gerufenen Deutschen Jazzpreis nach sich zog. Beim Interview in Riehl, unweit der Zitronenpresse genannten Kirche St. Engelbert, können wir mit Rebekka Salomea zwar nicht klären, warum es in Köln keine guten Salate im Restaurant gibt, aber ergründen, was die Unterschiede zwischen dem Schwarzwald und dem Rheinland sind und warum die Jazz-Szene sich zwar wandelt, leider aber zu langsam.

Du bist 2013 für das Studium an der Musikhochschule nach Köln gekommen. War das ein Kulturschock von der Kleinstadt Lahr im Schwarzwald in die Großstadt im Rheinland?

Der Übergang war fließend für mich. Ich war schon vorher für das Vorstudium jedes zweite Wochenende in Köln. Aber klar, so viele Student*innen auf einem Haufen, Abende auf den Mäuerchen, Haus-Partys mit wildfremden Leuten. Ich glaube, dass der Kulturschock, der des Student*innenlebens war.

Warst du denn im Schwarzwald schon auf einem Konservatorium?

Nein, gar nicht. Ich war auf Musikschulen, habe in Chören gesungen. Mit der Pubertät habe ich dann Stimmprobleme bekommen und Logopädie gemacht. Aber ich wollte eigentlich ganz lange Schauspiel studieren und deswegen war die Musik zweitrangig. Ich bin da erst später drauf gekommen, Musikerin zu werden .

Du kommst aus einer musikalischen Familie. Deine Eltern und auch dein Bruder, alle Musiker*innen. War die Schauspielerei vielleicht so etwas wie eine Rebellion?

Wahrscheinlich schon. Mein Vater wollte, dass ich Opernsängerin werde. Das habe ich wirklich nicht gesehen. Damals war eh das meiste falsch für mich, was er sagte. Also von daher: Ja, das war auch Rebellion. Ich habe viel auf der Bühne gestanden und fand die Energie, die ich da erlebt habe, eindrucksvoll. Mich hat gepackt, diese Transformationen durchzumachen. In Rollen schlüpfen fand ich sehr toll.

Wäre da nicht das Musical der richtige Ort gewesen, Gesang und Schauspiel miteinander zu verbinden?

Ich habe tatsächlich in der Schule Musical gemacht — und da auch erst gecheckt, dass ich ganz gut singen kann. Die Themen, die da gespielt werden, fand ich immer so ... naja. Aber durch meinen jüdischen Background hatte ich immer eine gewisse Nähe zum Great American Songbook gespürt. Da sind halt auch sehr viele (Musical-)Standards drin, die vornehmlich von jüdischen Komponisten geschrieben wurden. Damit konnte ich mich schon identifizieren, die Songs kannte ich auch von meiner Mutter, die sie rauf und runter gesungen hat.

Wie war denn dein Studium an der Hochschule?

Ich war erst mal verwirrt. Weil in Köln alles, was nicht Klassik ist, eigentlich zusammengefasst ist unter »Jazz/Pop«. Ich war vorher und am Anfang gar nicht so der krasse Jazz-Nerd.

Bist du das mittlerweile?

Nein. Ich bin nicht nicht-nerdy, aber man könnte immer noch tiefer einsteigen. Vor allen Dingen merke ich, dass bei mir manchmal dieses Ver­hältnis zu Abgrenzungen von Genre und musikalischen Stücken fehlt. Ich kann oft nicht nachvollziehen, wenn Leute sagen, dass Musikstücke eigentlich nicht zusammen passen.

Ist es nicht so, dass dies gerade auch den Reiz ausmacht?

Die Stücke deiner Band Salomea leben davon, dass sie nicht stromlinienförmig sind. Ich kann da auch nicht wirklich traurig sein, dass mein Blick in gewisser Weise verzerrt ist. Also natürlich ist das amüsant, wenn ich einen Song schreibe und fest davon überzeugt bin, dass das eine richtige Pop-Nummer ist, aber alle anderen bloß meinen:
Nein, Rebekka, wirklich nicht!

Generell scheint es als Vokalistin viel einfacher zu sein, eine Zwischengänger-Position einzunehmen. Ella Fitzgerald, Billie Holliday und Nina Simone werden ja nicht ausschließlich als Jazz-Sängerinnen rezipiert. Ich habe mir früh die Frage gestellt, welche Musik ich machen möchte. Was ist zeitgemäße Musik, zeitgemäßer Jazz?

Ich mache jetzt keine Band, wo ich Standards singe. Das führt dazu, dass manchmal hinterfragt wird, ob man jetzt überhaupt noch Jazz macht. Der Bassist Thundercat oder auch Hiatus Kaiyote haben es geschafft, mit komplexer Musik ein großes Publikum zu erreichen. Das ist natürlich Bestätigung und auch Ansporn. Wir haben so etwa 2016/17 Support für Genevieve Artadi und Louis Cole gemacht. Da war das Artheater ausverkauft — natürlich für den Hauptact. Aber wir haben gemerkt, dass man Musik machen kann, wie wir mit Salomea, und »trotzdem« Leute bewegt.

Wie war das eigentlich, als du angefangen hast, mit Salomea Musik zu spielen?

Wer waren da die Sparringspartner: deine Bandkollegen oder doch eher die Familie? Innerhalb der Band haben wir immer wieder ausgelotet, in welche Richtung es gehen könnte; dazu gesellten sich natürlich auch Dozent*innen wie Sebastian Grams, der immer sehr gute und kritische Fragen gestellt hat. Mein Vater war auch gut darin, provokante Fragen zu stellen. Ich denke mal, dass der Austausch mit dem Publikum vielleicht das wichtigste war. Dass wir uns angeschaut und angehört haben, wie Leute reagieren.

Ist es eigentlich schwieriger, Songwriting zu lernen als die Stimme zu trainieren?

Stimmtraining kommt ja naturgemäß handwerklich daher,  Songwriting aber als kreative Auseinandersetzung mit sich selbst und äußeren Einflüssen. Das sehe ich gar nicht so. Die Stimme trainieren ist nicht bloß Handwerk. Das ist emotionale Arbeit, man muss lernen abzuschalten, bei sich zu sein, und trotzdem muss ich die Arrangements, die bei uns sehr komplex sein können, im Blick behalten. Mit der eigenen Stimme da zu sein, die Band zu sehen, das Publikum, darauf reagieren zu können und trotzdem den Song zu transportieren: Da passiert viel mehr als man vielleicht von außen wahrnimmt.

Ich will nicht sagen, dass zwischen eurem ersten Album und dem zweiten »Bathing in Flowers« Welten liegen. Die Weiterentwicklung ist deutlich. Sehr auffällig ist, wie du mit deiner Stimme umgehst. Du spielst nun sehr mit Effekten und Verfremdungen. Was ist da improvisiert und aus dem Moment geboren?

Ich glaube, ich improvisiere immer weniger. Es gibt angelegte Parts, die ich mit den Melodien und Effekten variieren kann. Womöglich ändert sich das wieder, wenn wir demnächst wieder häufiger vor Publikum auftreten können.

Bei einem soundmäßig so komplexen Album, gab es da eigentlich den Moment, als ihr euch gefragt habt, wie man das live machen soll?

Eigentlich nicht. Wir hatten vor den Aufnahmen eine Tour gespielt und die Stücke kamen sozusagen von der Bühne.

Genießt du es, die Frontfrau einer Jazz-Band zu sein?

Die Szene ist trotz allen Entwicklungen in den letzten Jahren immer noch bevölkert von graumelierten Mackern. Ich habe das erst relativ spät kapiert, dass das wichtig ist. Nach innen hin sind wir eine Band, da besteht kein Zweifel. Aber klar, nach außen zu repräsentieren, dass man Songwriterin ist, dass die Band nach mir benannt ist — und das aus guten Gründen —, das ist nicht zu unterschätzen. Noch immer hinterfragen Leute, ob ich wirklich die Songs geschrieben habe.

Wie umfassend ist die Entwicklung tatsächlich? Hat sich in den letzten 15 Jahren tatsächlich etwas getan?

Ich muss sagen, dass ich mich immer noch häufig fehl am Platz oder nicht richtig verstanden fühle — je nach Kontext. Ich erwische mich dabei, wie ich denke: Warum seid ihr nicht offen für Musik? Ist das nicht die Idee von Jazz? Mir fehlt da wirklich das Verständnis für diese Strukturen und so ein Publikum. Auf Dauer möchte man in diesen Kontexten einfach nicht mehr auftreten. Aber generell gesagt: Es gibt ganz viele verschiedene Gruppen innerhalb der Jazz-Szene. Einige davon sind schon sehr cool und offen und jung. Dann gibt es eher so alte Orte und Veranstalter — die wollen nur den immer gleichen Sound. Ich kenne Musiker*innen, die spielen da und merken gar nicht, wie stark der Ausschluss dort ist. Für mich ist das nichts mehr, da muss ich mittlerweile sagen, dass es keinen Sinn mehr macht, in »Ü-60-Venues« zu spielen, sag ich mal lapidar.

Wie nimmst du das denn auch persönlich wahr?

Ich erinnere mich noch an den Anfang des Studiums, wo ich wirklich mit Aussagen wie »Du musst als Sängerin vor allen
Dingen gut aussehen« konfrontiert wurde. Ich würde sagen, dass ich eigentlich ein dickes Fell habe und deswegen zu lange nicht verstanden habe, wie schlimm das ist. Das kommt ja noch als Kompliment daher — aber ist ausschließlich übergriffig gewesen. Da hat sich aber unter den Mitmusiker*innen einiges getan. Die Aufmerksamkeit und Awareness ist angekommen.

Interview: Lars Fleischmann

 

 

 

Feuerwerk und Kugelgestalt

Christian Lillinger ist der Star der Cologne Jazzweek, weil er mehr spielt als bloß Jazz

Ein Loft irgendwo in Berlin, das Setting ist neutral und funktional: unspektakulär. Mai 2020, Corona hat da seinen ersten Schrecken verloren. Wir sehen ein Drumset, einen Kontrabass, ein Vibrafon, dann schon die Musiker, die rasch auf ihre Instrumente zuschreiten, Platz nehmen, anfangen. Alles sachlich, geradezu lakonisch. Und dann — folgt eine knapp vierzigminütige Explosion, oder besser: eine Explosion in vierzigminütiger Zeitlupe. Was ist das? Was spielen die da? Die Musik scheint perfekt durchstrukturiert zu sein, aber die Musiker haben keine Notenblätter, wir hören auch keine (spontan zu identifizierenden) Themen und Leitmotive, die Dynamik bleibt die gesamte Strecke über unberechenbar. Es kommt auch nicht zu Ausbrüchen, es gibt keinen Call-and-Response, keine Soli, die Musiker spielen auf verschiedenen Zeitebenen, schnell und langsam zugleich. Der Schlagzeuger lässt die Becken rascheln und scheppern und erzeugt so einen durchgehend schwebenden Sound — das ist die »langsame«, beinahe statische Komponente. Die Trommeln hat er extrem trocken gestimmt, niemals gibt die Basstrommel die Marschrichtung vor, und so wirken — andererseits — seine Aktionen knapp, hart, abgehackt. Aber nicht hektisch, er hat die Zeit, sich durch die Haare zu fahren und seine Frisur zu richten. Die Musik klingt wie ein pulsierendes, so jäh aufblitzendes wie rasch verglimmendes Feuerwerk.

Wir hören: einen entrückten Jonas Westergaard am Bass, der so entkoppelt vom Rest wie hellwach im Klang­universum agiert; einen hochkonzentrierten Christopher Dell am Vibrafon, der beides spielt: den Pianisten und zweiten Schlagzeuger; schließlich den Schlagzeuger — Christian Lillinger.

Lillinger, der schon als 16-Jähriger in Dresden Musik studiert hat und heute in Berlin lebt — seine erste Band hieß bezeichnenderweise Hyperactive Kid —, ist der aktuelle Star des deutschen Jazz, sogar im Weltmaßstab. Der 37-Jährige blickt auf eine beeindruckende Preis- und Stipendiensammlung, es gibt Podcasts mit ihm, einen Dokumentarfilm, der ausnahmsweise treffend betitelt ist: »Gegen den Beat«. So spielt er tatsächlich. Er ist seit einiger Zeit auch Produzent und Labelbetreiber — Plaist Music —, weil er weiß, dass er eine treue Schar von Fans hinter sich hat, die ihm jede seiner aufwändigen Vinylproduktionen gierig aus den Händen reißen. Dabei provoziert er immer noch (ungewollt): Im September 2020 spielt er mit Wester­gaard, Dell und der Pianistin Tamara Stefanovich als Gast in der Kölner Philharmonie, schon damals ahnt jeder, dass es eines der letzten Konzerte vor dem nächsten Lockdown sein wird. Dell hält eine kleine Ansprache, bedankt sich für diese rare Möglichkeit des Auftretens. Und dann — spielen sie den Saal halb leer. Das Publikum mag dieser Musik kaum folgen, bräsige Ignoranz strömt aus. Aber hey, hier wird gerade Musikgeschichte geschrieben, ein bisschen zumindest. Merkt das keiner? Das passiert so schnell nicht wieder.

Aber Moment, reden wir von … Jazz? Wie sich das gehört, sieht sich Lillinger längst darüber hinaus. Spätestens seit Miles Davis bekennt sich doch kaum ein Jazz-Innovator stolz zu diesem Label. Lillinger hat auch mal mit Peter Brötzmann und Joachim Kühn gespielt, zwei früheren Weltstars des (deutschen) Jazz, die sich, selbstverständlich, dass »J-Wort« verbeten hätten. Vielmehr interessiert sich Lillinger für die »Kugelgestalt der Zeit«, wie es Karlheinz Stockhausen einst formuliert hatte: Jede klangliche Aktion verhält sich gleich nah — gleich weit weg — zu einem letztlich imaginären Zentrum der Musik. Musik wird non-linear gedacht — und sie spielt sich auf verschiedenen Zeitebenen ab, jede dieser Ebenen ist gleichberechtigt, ordnet sich keiner Hierarchie unter. Stockhausen brachte diese Musik-Vorstellung nicht mit Jazz in Verbindung, im Gegenteil Neutöner und Avant­gardisten verhöhnten vor sechzig Jahren Jazz noch als pseudo-aufgeklärt. Lillinger kommt aber unzweifelhaft vom Jazz, Improvisation spielt eine große Rolle in seiner Arbeit, selbst da, wo er als Komponist in Erscheinung tritt, klingen seine Stücke so, als hätte er freie Improvisationen transkribiert und bloß sachte gestrafft.

Am 4. September ist er in der Aula der Musikhochschule auf dem Abschlussabend der Cologne Jazzweek zu hören, mit seiner Großgruppe »Open Form for Society«, auch hier ist der Name treffend gewählt — denn in dieser Musik geht es um Form und Freiheit, nicht als Gegensatz, sondern als gegenseitige Inspiration. Wer die neun Musikerinnen und Musiker schon mal auf der Bühne gesehen hat, erlebt — im Wortsinne — eine Arbeitsgruppe, einen ineinander verschränkten Mechanismus, in dem aus unzähligen Einzelaktionen sich mehr und mehr ein so schillernder wie homogener Strom aus Klängen — und vor allem Rhythmen ergießt. Dass ein Berliner Musiker den Abschluss eines Kölner Jazzfestes bestreitet, ist keine Ironie: Lillinger hat immer schon vielfältige Beziehungen in die Kölner Szene unterhalten, hat mit Pablo Held gespielt, mit Robert Landfermann, Simon Nabatov oder Philip Zoubek. Im Jazz gibt es keinen Berlin-Köln-Zwist. Und so steht Lillinger »nur« für das, wofür das ganze Festival stehen will: für Zeitgenossenschaft.

Text: Felix Klopotek