»The French Dispatch«
Eine Zeitschrift, wie es sie heute kaum noch gibt. Die sich wie ein Buch mit Kurzgeschichten und mit Essays liest. Die eine liberale Agenda der Offenheit, der Freiheit, der Risikofreude, des Fortschritts vertritt und sich der Aufklärung und Verbesserung der Menschheit verschrieben hat. Ihr Publikum will diese ideale Zeitschrift nicht nur gut informieren, sie will es erziehen — auf hohem Niveau unterhalten. Nicht jede Information ist wichtig, Ausgewogenheit schon gar nicht, sondern Distanz. Es zählen nur die Informationen, die die Zeitschrift ihren Käufer*innen gönnt.
»The French Dispatch« ist der Name dieser Zeitschrift und der Titel des neuen Films von Wes Anderson. Das Kino-Publikum soll unbedingt an das Magazin New Yorker denken, das es immerhin noch wirklich gibt. Mittlerweile haben die meisten dieser klassischen Medien, die einmal vierte Gewalt waren, und damit auf Distanz zu den anderen Gewalten standen, an Relevanz eingebüßt. Aus kommerziellen Gründen verkümmern viele zu Dienern der Macht und des Mainstreams.
Ennui-sur-Blaisé heißt der Ort, an dem die Zeitschrift aus Wes Andersons Film erscheint. Ihre Autor*innen berichten aus Europa, und zwar für Amerikaner*innen. Denn der wunderbare imaginäre Ortsname steht offensichtlich für Paris. Mit dem ironischen Hinweis auf Ennui und Blasiertheit markiert Wes Anderson, der bekannteste Dandy unter den zeitgenössischen Filmemacher*innen, ganz offen seine eigene Haltung, eine gewisse Langeweile in der Gegenwart. Damit trifft er wiederum einen Nerv. Das Gefühl der Menschen, die heute zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, und die allmählich aus der Zeit fallen, weil sie langsam die Welt verschwinden sehen, in der sie aufgewachsen sind, sowie ihr Wille, sich diese Welt zurückzuerobern zieht sich gerade durch viele Gegenwartsfilme: eine kämpferische Nostalgie.
»The French Dispatch« spielt 1975, mit Rückblicken in vorangegangene Jahrzehnte. Der visuelle Stil setzt sich aus Frankreich-Klischees und Zitaten des »alten« Journalismus zusammen; eines Journalismus, in dem ein Chefredakteur und Herausgeber — hier gespielt von Bill Murray — Anzeigen strich und mehr Papier orderte, wenn eine seiner Autorinnen — hier gespielt von Frances McDormand oder Tilda Swinton — einen Text abgab, der länger als vereinbart war: »Cut some ads! Order more paper!«
Systeme und Strukturen interessieren Wes Anderson heute viel eher als früher, wo er sich mehr für Familien und für einzelne Figuren interessiert hat. So ist »The French Dispatch« als Hommage an den alten Journalismus zu verstehen, an das, was er mal war, bevor die Controller und die Sozialen Netzwerke wichtiger wurden. Klassische Moderne heißt bei Anderson vor allem Frankreich. Sie setzt sich bei ihm zusammen aus den Klischees des französischen Lebens und der Avantgarde, des modernen Kunstbetriebs, der »verrückten europäischen Maler« und der amerikanischen Milliardärinnen, die Sammlerinnen werden, um Museen zu erschaffen, die nach ihnen selbst benannt sind, in der Wüste von Kansas zum Beispiel. Benicio del Toro und Léa Seydoux spielen solche Figuren.
»The French Dispatch« ist ein großartiger, sehr lustiger und perfekt gemachter Film. Und dieses Meisterwerk des Episodischen beweist auch: Andersons Welt ist eben nicht nur manierierte Oberfläche, auf die auch viele Verteidiger*innen Andersons Filme gerne reduzieren. Der Dandy formuliert in diesem Fall sogar eine politische Botschaft, nämlich die Verteidigung von Freiheit und Ineffizienz, von Ennui und Blasiertheit.
Gewidmet ist »The French Dispatch« zwei Dutzend historischer Autor*innen und Journalist*innen, die am Schluss alle namentlich genannt werden. Hannah Arendt, Pauline Kael und James Baldwin sind auch dabei.
USA 2021, R: Wes Anderson, D: Tilda Swinton, Bill Murray, Timothée Chalamet, 108 Min., Start: 21.10.