Eine dringende Aktualität
»Ladies, We Need To Talk« mit der Moderatorin Yumi Stynes ist einer meiner Lieblingspodcasts auf ABC Radio. In einer kürzlich veröffentlichten Folge, »A love letter to our friends«, stand das Thema der Zelebrierung unserer Freundschaften im Mittelpunkt. Am Ende folgte die Aufforderung: Schreibt doch mal einen Liebesbrief an eure besten Freund*innen. Was für eine liebevolle Geste! Auch bei diesem Text musste ich daran denken — ein Liebesbrief an die Meisterschaft der Sofia Jernberg. Los geht’s!
Im letzten Jahr habe ich so viel Musik gehört, wie seit langem nicht. Natürlich lag es daran, dass durch die Pandemie auf einmal der ganze Konzertbetrieb und die Touren wegbrachen und ich viel mehr Zeit hatte. Ohne die pandemische Situation romantisieren zu wollen, hatte ich, innerhalb dieses anfänglichen Stillstandes für meine Kolleg*innen und mich, erst eine unheimliche Lust zu schlafen und dann ein riesiges Verlangen mich ganz intensiv mit meinem Instrument zu befassen — der Stimme.
Dieses Bedürfnis in seiner Direktheit hatte ich sehr lange Zeit nicht gefühlt. Ich war bisher keine Vielhörerin, habe mich eher langsam über eine bestimmte Zeit mit einer Handvoll Platten beschäftigt und diese Auswahl nach und nach sacken lassen bis Neues Einzug hielt. Die verschiedenen Lockdowns haben bei mir bewirkt, dass ich mich plötzlich noch mehr mit dem Instrument Stimme konfrontiert habe und ein viel stärkerer, forschender, explorativer Prozess startete.
So wandte ich mich auch wieder Sofia Jernbergs Musik zu, die ich ungefähr 2015 inmitten in meines Jazzgesangsstudiums entdeckt hatte. Sofia Jernberg, eine schwedische Sängerin, Performerin, Komponistin, Improvisatorin, wurde 1983 in Äthiopien geboren. Sie wuchs in Äthiopien, Vietnam und Schweden auf. Ich kann mich noch sehr gut an meinen damals noch vagen Wunsch nach einem sängerisch-experimentellen Vorbild erinnern. Ein Vorbild, das, neben all den zweifelsfrei wichtigen Heroes und Heroines der Freien Vokalimprovisation, Klangkunst und des Stimmexperiments, eine dringende Aktualität verkörpert und sich altersmäßig nicht allzu groß von mir unterscheidet. Außerdem wünschte ich mir eine größere Betonung auf dem Changieren zwischen Gesungenem und Geräuschhaftem. Sofia beherrscht dies auf so kunstvolle Weise, dass ich sofort begeistert war.
Wenn ich jetzt ihre Performances höre, tauche ich in eine andere Welt ab. Natürlich bin ich als Sängerin absolut beeindruckt von ihrem technischen Können. Aber es sind ihre überragende Kreativität, ihre Ruhe, Ausstrahlung und Energie, die mich faszinieren. Sie ist eine eigensinnige, fleißige, vielseitige, widerspenstige, experimentierfreudige, mutige, humorvolle und feinsinnige Künstlerin — eine außergewöhnlich talentierte Grenzgängerin.
Was ich wohl nachhaltig von Sofia Jernberg lernen kann, ist die beeindruckende Gleichzeitigkeit von Geräusch, Geräuschhaftigkeit und organisiertem Klang sowie der spielerischen Leichtigkeit und Neugierde, mit der sie sich diesem Balancieren widmet. Wenn sie die Lautstärken und Präsenzen verschiedener Obertöne verschiebt, mit Yodeling arbeitet oder man an den vielen, sich fortwährend weiterspinnenden Spannungsbögen teilhaben kann, verliert sie diese Leichtigkeit nie.
Gerade Sänger*innen können gut nachvollziehen, welchen technischen Höchstleistungssport sie betreibt, wenn sie zwischen verschiedenen Vocal-fry-Sounds und sauberer Phonation hin- und herwechselt, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Sie widmet sich einem einzigen Ton, erkundet diesen minutenlang, entwickelt ihn, verschiebt Resonanzen, ändert Positionen der Zunge und des Kehlkopfes, aktiviert die Konstriktoren der Rachenmuskulatur und lässt dann nach und nach wieder mehr Platz. Wenn sie dann reflektorische Mechanismen, wie Schlucken oder Atmen abkoppelt und klanglich und geräuschhaft von allen Seiten betrachtet, ist man als Zuhörer*in schon längst in ihrem Bann. Sie klingt oft wie ein menschlicher Synthesizer.
Am beeindruckendsten und spannendsten ist es aber, Sofia Jernberg live zu erleben. An dieser Stelle jedoch einige unvollständige, Hörempfehlungen: Die zwei Solo-Performances bei Black Mountain College (2020), die Produktion »Crochet« (Plugged Music AB 2010) im Duo mit der Cellistin Lene Grenager, die Feature-Platte »With Sofia Jernberg« des Lana Trios mit Henrik Munkeby Nørstebø (Posaune), Kjetil Jerve (Piano) und Andreas Wildhagen (Schlagzeug und Percussion) oder Sofia Jernberg als Teil der wunderbaren Compilation »Resonant Bodies« des Resonant Bodies Festivals mit ihrem Solo-Stück »One Pitch: Birds for Distortion and Mouth Synthesizers«. Auf der Platte »Allt Är Intet« (RareNoiseRecords 2018) von The End kann man Sofia Lyrics singend, schreiend und in strahlenden Höhen wegschwebend erleben. Weitere Solo-Performances und Aufnahmen sind auf YouTube, Bandcamp und Vimeo zu entdecken.
Sich in einem eher konventionellen Songkontext, in einem herausfordernden Register oder einem bestimmten neuen Sound zu erfahren, bereitet Sänger*innen oft erstmal Kopfzerbrechen oder Frustration — auch mir. Es hat sehr geholfen und hilft nach wie vor, viel spielerischer an diese Bereiche meiner Stimme heranzugehen. Vorbilder wie Sofia zeigen mir, dass sich Grenzen verschieben lassen und ich meine Stimme wirklich als Spielfeld sehen kann. Gleichzeitig möchte ich aber auch die Lebendigkeit der Stimme, die »Unperfektheit« und Organik nie aus den Augen verlieren und wohlwollend mit meinem Instrument umgehen.
Sich auszudrücken, sich auch hier von beschränkenden Einordnungen zu emanzipieren und alles zu dürfen, aber nichts zu müssen, das verkörpert für mich in beeindruckender Weise Sofia Jernberg.
Laura Totenhagen
Die Kölner Sängerin, Improvisatorin und Komponisten Laura Totenhagen ist vor allem bekannt durch ihr gleichnamiges Quartett, in dem sie mit Felix Kaufmann (Paino), Stefan Schönegg (Bass) und Leif Berger (Schlagzeug) traumwandlerisch Songs und (freie) Improvisationen miteinander verwebt. Es ist eine so subtile wie beharrliche Musik, die sich auf ihre Weise jenseits sattsam bekannter Jazz- und Pop-Kategorien verortet. Ihre letzte CD »Yonic« erschien 2019 auf dem Kölner Label Klaeng Records, neues Material ist in Arbeit. Aktuell arbeitet sie mit dem Bassisten Robert Lucaciu in der Band Fallen Crooner, die sich mit toxischer Männlichkeit auseinandersetzt.