Der andalusische Heinrich Böll
Wurzeln — dieser Begriff fällt, wenn Menschen aus einer anderen Region des Landes oder der Welt kommen und eine neue Heimat gefunden haben. Wurzeln haben, Wurzeln schlagen, entwurzelt sein: Um diese Vokabeln drehen sich, in gewisser Weise, große Teile des Werkes von José F.A. Oliver, dem diesjährigen Heinrich-Böll-Preisträger. Über den 1961 im Schwarzwald geborenen Dichter und Essayisten liest man in jeder (Kurz-)Biografie, er habe andalusische Wurzeln. Was das genau bedeuten mag, wird dann nie erwähnt. Konkret heißt das aber für Oliver, dass sein Werk stets zwischen Deutsch und Spanisch schwingt; seinen Platz zwischen Sicherheit und Unbekümmertheit hat. Die Art und Weise, in der er mit neuen Wortschöpfungen und Komposita umgeht, wie er mit Partikeln jongliert, kann wohl unmittelbar auf sein »polyglottes Herz« zurückgeführt werden.
Spätestens seitdem er 1998 den Chamisso-Preis gewonnen hat, gilt José F.A. Oliver als eine feste Größe im deutschen Lyrik-Betrieb. Mit Büchern wie »nachtrandspuren«, »finnischer wintervorrat« (beide bei Suhrkamp erschienen) oder dem Band »wundgewähr« des Verlags Matthes & Seitz Berlin hat der Schwarzwälder eine Sprache entwickelt, die sich grundsätzlich von der anderer deutscher Lyriker*innen unterscheidet. Ja, das liegt auch an der Mehrsprachigkeit. Dennoch ist der Versuch offensichtlich nicht, die verschiedenen Sprachen gegeneinander auszuspielen, sondern aus ihnen eine universelle Sprache zu kondensieren. Wie ein Noam Chomsky und andere Linguist*innen versucht Oliver als lyrischer Künstler eine Generalgrammatik zu identifizieren und abzubilden. Eine Sprache, die auf Rhythmus mehr Acht gibt als auf die logische und vermeintlich richtige Aneinanderreihung von Phonemen. Das macht ihn dann auch zu einem politischen Künstler — so wie es sich für einen Heinrich-Böll-Preisträger gehört. Denn in diesem Ringen um Universalität liegt auch der Versuch der sogenannten Völkerverständigung — über (Sprach-)Grenzen hinweg. Tief verwurzelt, nicht in einer nationalen Identität, sondern in der Welt.
Lesung und Gespräch
25.11., Zentralbibliothek der Stadt Köln, 20 Uhr