Pfarrer Franz Meurer (links) und Jochen Ott

»Die Arbeit im Maschinenraum muss sich lohnen«

Pfarrer Franz Meurer gilt als Don Camillo aus Höhenberg / Vingst. Er sagt, Kirche kann nur überleben, wenn sie für die Menschen da ist, vor allem für die, die arm sind und sich nicht wahrgenommen fühlen. Auch den Kölner Sozialdemokraten und Landespolitiker Jochen Ott treibt die Spaltung der Gesellschaft um. Er fragt, was uns in Zeiten von Selbstoptimierung, Identitätspolitik und Filterblasen überhaupt noch eint

Herr Pfarrer Meurer, Herr Ott, Sie haben beide jeweils gerade ein Buch veröffentlicht. Der Pfarrer will zeigen, wie Kirche wieder für die Menschen da sein kann. Der SPD-Politiker sorgt sich um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie beide treibt um, dass es an Solidarität fehle und dass das Land gespalten sei: in Reich und Arm und in die, die sich Gehör verschaffen, und die, die abgehängt sind und kaum wahrgenommen werden.

Pfarrer Franz Meurer: Es geht um Gemeinwohl, Solidarität und Gerechtigkeit bis hin zur Barmherzigkeit. Und natürlich auch um die Frage von Identität, um ein modernes Wort zu benutzen.

Dann lassen Sie uns beginnen. Herr Ott, Sie fordern »Solidarischen Individualismus«. Was soll das sein?

Jochen Ott: Wir müssen Individualismus und Solidarität zusammendenken. Wir alle wollen selbst entscheiden, uns nicht in Systeme stecken lassen. Aber wir spüren auch, dass man schnell vereinsamt. Mit Blick auf die nächste Generation ist wichtig, zu zeigen, was Zusammenhalt bedeu­tet. Bei der Bundestagswahl haben die individualistischen, liberalen Parteien — Grüne und FDP — bei den Erstwählern deutliche Zustimmung erhalten. Umso wichtiger, Solidarität jetzt neu zu definieren.

In Ihrem Buch setzen Sie die Wir-Parteien — für Sie die früheren Volksparteien SPD und CDU — gegen die Ich-Parteien, Grüne und FDP.

Ott: Grüne und FDP ähneln sich strukturell. Die Grünen sind gesellschaftspolitisch liberal, die FDP wirtschaftspolitisch. Idee der Volksparteien war, milieuübergreifend zusammenzuführen. Das ist heute schwierig, die Milieus driften auseinander. Die Frage ist, was hält uns zusammen?

Im digitalisierten Kapitalismus ist jeder Unternehmer in eigener Sache. Selbst das Privatleben wird gemanagt, es geht um Optimierung, Image, Effizienz. Inwiefern muss die Sozialdemokratie, aber auch die Kirche aufpassen, dass Menschen von diesem System nicht aufgesogen werden?

Meurer: Ich sage mit dem Papst: Diese Wirtschaft tötet. Damit meint Franziskus aber nicht die soziale Marktwirtschaft, sondern eine Wirtschaft, die er aus Argentinien kennt. Die Hälfte der Leute lebt unter der Armutsgrenze. In Deutschland leben wir auch in der kranken Situation, dass sich Leistung für die Leute im Maschinenraum der Gesellschaft nicht mehr lohnt. Alle wollen ja, dass der Maschinenraum funktioniert: Straßen­reinigung, Pflege, Hospize, all das.

»Schule und Kindergarten sind noch Orte, wo Milieus sich mischen, aber auch hier zeigt sich ein Trend, dass es homogener wird«
Jochen Ott

Wie passt das andere große Problem, der Klimawandel, zu Ihrem Thema?

Meurer: Wichtig ist, wie Klimawandel und Armut zusammenhängen. Franziskus hat in der Enzyklika »Laudato si« gesagt, dass die Armen als erstes darunter leiden. In der Folge kommt es zu einer Gesellschaft, die sich immer mehr spaltet. Irgendwann aber haben auch die Reichen Pro­bleme. Denn dass auch in gutbürgerlichen Vierteln Obdachlose sitzen, das wollen die ja nicht.

Herr Ott, Sie kritisieren das grüne Milieu als ich-zentriert. Aber ist es nicht gelebte Solidarität, wenn man für Klimaschutz demonstriert und für die Zukunft der jungen Generation eintritt?

Ott: Ja, natürlich. So ist das. Aber das reicht nicht. Ich würde ihnen auch sagen: Wenn wir dem Klima­wandel was entgegensetzen wollen, dann brauchen wir auch Tausende, die Klimaschutz  technisch wie handwerklich konkret umsetzen. Eine Position zu vertreten, ist die eine Sache. Das andere ist Umsetzung — da darf man nicht gegen Windräder auf der Wiese, Straßenbahnen vor der Haustür oder aus Gründen des Denkmalschutzes gegen Solaranlagen auf dem Dach sein. Umwelt und Soziales zu versöhnen, geht nur, wenn man sich auch in die Umsetzung verliebt.

Meurer: Du musst aber aufpassen. Ich spüre das Bedrängende deiner Rede. Man darf nicht zu bedrängend werden. Das ist den Leuten irgendwann zu viel.

Ott: Andererseits läuft man als Politiker Gefahr, kein Profil zu haben. Dann weiß keiner, wofür du stehst.

Meurer: Ja, ja.

Ott: Nun ist die Aufgabe, die Versöhnung von Kapital, Arbeit und Ökologie. Sonst gehen die Leute von der Fahne. Und wenn jemand wie Eckart von Hirschhausen im WDR erklärt, jeder, der Billigfleisch kaufe, solle einen Eimer Gülle dazu bekommen — dann empfinde ich das als Verhöhnung armer Menschen. Ich kenne Menschen, die schauen alle Reklamebeilagen der Discounter durch und kreuzen die Sonderangebote an, um das wenige Geld, das sie bekommen, für ihre Familie effizient einzusetzen!

Meurer: Ich bin da versöhnlicher. Ich glaube nicht, dass Hirschhausen kleine Leute verachtet. Er hat sich aber auf ein Thema festgelegt.  

Ott: Man muss den Menschen sagen: Denkt bitte daran, wie die Arbeitsbedingungen für die sind, die das produzieren! Denkt daran, wie es den Tieren ergeht! Dann sind auch viele bereit, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie denn mit ihrem Geld halbwegs bis zum Monatsende kommen.

Meurer: Bei den Grünen gibt es ja durchaus Ansätze, die Soziale Frage stärker mitzudenken.

Kommt also beim Klimaschutz die Soziale Frage zu kurz? Man regt sich über industrielle Tier­haltung auf, nimmt aber wenig Anteil an der Situation der Paketboten?

Meurer: Also ich würde mir ja eher die Hand abhacken, als bei Amazon zu bestellen...

Ott: Und wo macht Amazon die größten Umsätze? Nicht in Höhenberg und Vingst! Sondern da, wo Leute es sich leisten können, wo der grüne ­Wähleranteil besonders hoch ist: Südstadt, Ehrenfeld, Nippes!

Was schlagen Sie vor?

Ott: Sorgen wir dafür, in Köln unser eigenes »Amazon« aufzubauen — mit guten Arbeits­bedingungen! Wir könnten in den Stadtteilen die kleinen Geschäfte anbinden, man könnte ein vernünftiges logistisches und auch ökologisches Konzept entwickeln.

Die Spaltung der Gesellschaft zeigt sich auch darin, dass die unterschiedlichen Milieus sich kaum noch begegnen. Die Kirchen sind leer, die Vereine finden keinen Nachwuchs, alte Menschen leben allein und es gibt immer mehr Single-Haushalte.  

Ott: Stimmt. Schule und Kindergarten sind noch die Orte, wo Milieus sich mischen, aber auch hier zeigt sich ein Trend, dass es homogener wird. Wir brauchen mehr Orte des Wir, wo etwas für die Gemeinschaft getan wird.

Herr Pfarrer Meurer, die Kirchengemeinden sind als Orte gedacht, wo alle zusammenkommen. Jeder ist willkommen, ohne Voraussetzung. Trotzdem treten immer mehr Menschen aus.

Meurer: Die Kirche als solche funktioniert nicht mehr, man muss es zusammen machen. Man muss versuchen, mit Menschen guten Willens tätig zu werden. Jeder Mensch, in den man investiert, wird das im Gedächtnis behalten. Und jeder, der sich für andere einsetzt, wird andere überzeugen, das auch zu tun. Man muss Menschen dazu motivieren, was für und mit anderen zu tun. Warum? Weil ihr Leben dadurch groß wird! Wir haben hier auch ehrenamtliche »Putz-Engel«, Frauen und Männer!  Die rufen ständig an und sagen: Wann können wir wieder? Deren Leben ist reicher geworden. Gemeinschaft zu erfahren, ist das A und O! Homo homini lupus — das stimmt nicht!

Ott: Man muss Strukturen für Engagement schaffen. Aber das muss man politisch wollen. Wir brauchen überall in der Stadt Sozialraum­koordination! Sozialraumkoordinatoren verbinden, sie halten zusammen, bringen die Menschen und die Institutionen zusammen.

Meurer: Ja, aber die Dinge funktionieren nie top-down, immer nur bottom-up. Es muss erst brodeln. Was an einem Ort funktioniert, funktioniert woanders vielleicht nicht. Barmherzigkeit ist die Kraft des Einzelnen, die Macht des Individuums. Das kann man nicht verordnen.

Dann predigen Sie also Barmherzigkeit.

Meurer: Ach... ich predige das doch nicht! Die Leute sehen das, die hören doch, was geschieht. Wie beim Gleichnis vom Samariter: Wer geht mit? Jeder einzelne entscheidet, ob er dem Beispiel folgt! Bei mir selbst muss ich streng sein, aber im Umgang mit anderen? Ganz, ganz offen.

Erläutern Sie das bitte.

Meurer: Wenn ich Barmherzigkeit vorleben will, muss ich das auch im Privaten machen, klar. Die Leute sollen sich an mir orientieren. Aber ich kann nicht von anderen fordern, dass sie genau­so sind. Das ist ja das Schrecklichste! Wie beim Pharisäer, der sagt, wenn alle so wären wie er, wäre die Welt besser. Zu meinen, die eigene Einsicht würde die Lösung für alle anderen bringen, das ist falsch. Es ist immer nur eine Perspektive. Und wenn man sich zurücknimmt und schaut — dann erst kann etwas Gutes geschehen!

Ott: Das ist der Unterschied zwischen Staat und Christentum! In Staat und Verwaltung gibt es Hierarchien, Personen, die bestimmen. Und wenn die das, was demokratisch beschlossen wurde, nicht umsetzen, versündigen sie sich.

»Bei mir selbst muss ich streng sein, aber im Umgang mit anderen? Ganz, ganz offen«
Pfarrer Franz Meurer

Herr Pfarrer Meurer, Sie sagen, man muss auch mal etwas ausprobieren ...

Meurer: Ja, man muss ab und zu auch Risiko­kapital einsetzen. Da bin ich liberal. Wie beim Investment mit Geld, nur dass man sagt: Ich setze jetzt mal auf diese Initiative! Um zu gucken, was nützt! Und man muss evaluieren — aber das passiert im sozialen Kontext ganz selten.

Ott: Mir ist das noch mal klar geworden, als ich im Jugendamt war: Ein halbes Jahr lang für ein Kind täglich zwei Stunden Erziehungsberatung kostet 36.000 Euro. In einem Jahr 72.000 Euro! Dafür könnte man dem Kind einen eigenen Sozialarbeiter als Bildungslotsen daneben stellen und es wäre immer noch Geld übrig. Ich bin nicht gegen die Maßnahmen. Macht es Sinn, dieses System weiterzuführen? Veränderungen passieren in Köln aber nicht mehr aus der Verwaltung heraus, sondern durch Menschen wie Pfarrer Meurer und andere!

Meurer: Na ja ... Also ich glaube, dass es viele Ideen gibt, die Leute müssen aber unterstützt werden.  

Herr Pfarrer Meurer, Sie wollen durch gute ­Beispiele wirken. Aber viele gesellschaftliche Gruppen haben zurzeit sehr konkrete Vorstel­lungen, was richtig ist und was nicht: wie wir sprechen, uns benehmen, wie wir einkaufen, verreisen, wie wir unser Leben führen sollen. Zeigt sich hier ein problematischer Individua­lismus als Gruppen­identität?  

Ott: Ja, das sehe ich so.  

Meurer: Es gibt den Spruch: Gemeinschaft macht gemein. Das kann man nur durch permanente, transversale Kommunikation überwinden. Ein Problem in unserer Gesellschaft scheint mir auch zu sein: Der eine redet, und der andere kann es schon gar nicht mehr verstehen. Jeder hat ein Konzept, jeder denkt groß.

Ott: Mir sagen meine Kinder ständig, welche Wörter aus ihrer Sicht angemessen sind und welche nicht.

Meurer: Echt?

Ott: Ja, weil Kinder, die in Nippes, Ehrenfeld oder der Südstadt groß werden, eben anders reden als die Kinder, die in Mülheim oder Kalk zur Schule gehen. Das ist auch nicht schlimm, wenn man es nicht als Herrschaftsinstrument sieht. Im Vingster Mieterrat saß ich mit 150 Leuten zusammen, als es um die Sanierung der GAG-­Sied­lung ging. Die haben erzählt, wie bestim­m­te Bevölkerungsgruppen das Treppenhaus nutzen — und das mit, ich sag mal, schwierigem Vokabular. Da kann man natürlich aufstehen und gehen und sagen, mit euch rede ich nicht mehr. Man kann aber auch sagen: Jetzt hört mal auf damit und lasst uns zum Kern kommen: Werden hier in der Siedlung Regeln eingehalten, und wenn nicht, wie schaffen wir das? Natürlich gibt es Grenzen, wo man sagen muss: Ende, Feierabend! Aber manchmal muss man auch aushalten, dass manche Menschen eben anders reden, weil sie anders aufwachsen.  

Viele Debatten bei Grünen, der Linken, aber auch in Teilen der Sozialdemokratie sind derzeit von der Auseinandersetzung mit Identitätspolitik geprägt. Nancy Fraser, die amerikanische Feministin und Philosophin sagt, Identitätspolitik sei im Grun­de Neoliberalismus — denn sie vernachlässige die Frage der Klasse, also von Reich und Arm.

Ott: Das sehe ich auch so. Weil es dazu führt, dass nicht mehr die entscheidende Frage ist, was jemand will, sondern nur, wer jemand ist. Die Menschen sind nicht bloß wertvoll, wenn sie einer bestimmten Gruppe angehören.

Meurer: Dazu hat Amartya Zen ein Buch geschrieben: »Die Identitätsfalle«. Die schnappt zu, wenn Menschen auf eine einzige Identität reduziert werden.

Ott: In der Sozialdemokratie geht es nicht um die Sortierung, ob jemand schwul oder lesbisch, jung oder alt, Migrant oder nicht ist. Sondern es geht um Reich oder Arm. Der Blick auf die Soziale Frage bringt eine Gesellschaft weiter. Das löst Emanzipationsprozesse aus, die schließlich auch Minderheiten helfen.

Meurer: Ich will das im Einzelnen gar nicht bewerten. Ich bin der Ansicht: Ohne Werkzeuge, ohne Tun, sind Haltungen für die Katz.

Pfarrer Franz Meurer
geboren 1951, ist katholischer Pfarrer in St. Theodor und St. Elisabeth in den Stadtteilen Höhenberg und Vingst, die von Armut geprägt sind. Meurer hat viele soziale Projekte angestoßen, er setzt auf Beteiligung und ein demokratisches Gemeindeleben. Sein neues Buch heißt »Waffeln, Brot und Gottes Glanz — Wie Kirche es gebacken kriegt« und ist bei Herder erschienen

Jochen Ott

geboren 1974, ist SPD-Politiker und Vize seiner Fraktion im NRW-Landtag. Seine Themen sind Bildung, Schule, Wohnen und Bauen. Von 2001 bis 2019 war Ott Vorsitzender der Kölner SPD. Zuvor war er Lehrer für Geschichte, Sozialwissenschaften und katholische Religion. Ott lebt mit seiner Familie in Nippes. Sein neuestes Buch heißt »Solidarischer Individualismus« und ist bei Greven erschienen.