Lieber Cyborg als Göttin
Ein schweres Zugunglück. Menschen sind gestorben. Was wäre, wenn clevere Mediziner die noch lebensfähigen Körperteile sammeln und neu zusammensetzten? Wäre es ein Zombie oder ein neuer Mensch, der quasi auferstanden wäre? Welches Geschlecht wäre ein weiblicher Körper mit männlichem Kopf? Ein seltsam gruseliges Gedankenexperiment liegt dem neuen Abend »Virtual Brain« des Theaterkollektivs Wehr51 zugrunde, das im Untertitel »Die Überwindung des Todes« heißt und sich mit den Grenzen des Menschseins beschäftigt.
Entstanden ist es in Pandemie-Zeiten zunächst als Film und als klanglich ausnehmend spannendes Hörspiel, nun wird es endlich im Orangerie-Theater auch gespielt — aber das Wort trifft es nicht ganz. Denn Regisseurin Andrea Bleikamp hat aus ihrem »installativen Abgesang« ein umfassendes Multimedia-Erlebnis gemacht, ein vielstimmiges Bilder- und Stimmwerk, das auf drei hängenden Leinwänden durch Videoprojektionen ergänzt wird: Drohnenfilme, Landschaften, Menschenmassen, Computeranimationen. Mit dem Hocker kann man mitten auf die Bühne gehen und jede Perspektive einnehmen.
In einer Art Glaskuppel, ein gläsernes Gehirn, in dem Prothesen-Ersatzteile von einem Kontrollpult hängen, sehen wir den neuen Menschen, Asta Nechajute, mit ihrem Arzt, gespielt von Torsten-Peter Schnick. »Wir freuen uns, dass Sie sich für eine Immortalisierung entschieden haben«, schnarrt er geschmeidig, während Nechajute in einem Rollstuhlgebilde hilflos den Kopf dreht. Doch wo sie zu Beginn nicht einmal den verabreichten Zucker verweigern kann, gelingt ihr nach und nach die Körperbeherrschung, steht sie auf, wechselt die Rollen: »Ich bin kein Zombie, ich habe Rechte.« Wie eine KI erlangt sie exponentiell neue Fähigkeiten, um schließlich — Frankenstein lässt grüßen — die Kontrolle über ihren Konstrukteur zu haben. Am Schluss zappelt Schnick selbst im Rollstuhl, während Nechajute machtvoll und triumphierend alles zu dirigieren scheint: »Ihr hättet mich töten sollen, aber ihr seid alle zu schwach.«
Währenddessen stehen vier mahnende Gestalten um die Szenerie. Thomas Krutmann, Miriam Meissner, Anna Möbus und Marc Fischer sind behängt mit Prothesengebilden und glitzernden Anzügen und sprechen in Mikros, kommentieren, beleuchten, reflektieren mit verzerrten Roboterstimmen, was da eigentlich gerade passiert — wie Echokammern des Bewusstseins, in denen zugleich das Sprachgewirr des Internets nachhallt und das durch chorische und rhythmische Elemente zugleich wirkt wie ein Konzert. Durch die fantastische Musik und das Surround-Mixing von Sibin Vassilev entstehen, jenseits der Verwirrung, überwältigende Momente von Ganzkörpererfahrung. Bis wohin wären wir bereit, aus Angst vor dem Tod zu gehen? Was ist ein Ich, wenn es permanent dupliziert werden kann?
Aus der Verschränkung von zwei Texten, Musik und Bild ist diese komplexe und ambitionierte Uraufführung entstanden, die allerdings an manchen Stellen auch durch Abstraktheit und zu schnell abgefeuertes Sprachgewitter verwirrt: Götz Leineweber hat »Die Haut« geschrieben, Charlotte Luise Fechner das »Ossuarium der Zukunft«. Das eine Stück beschäftigt sich eher mit den körperlichen, das andere mit den geistigen Folgen der neuen Mensch-Kreation. Begleitet wird die Inszenierung mit sechs spannenden Podcasts zu Identität, Sprache oder Unsterblichkeit (hier nachzuhören: wehr51.com/virtual-brain). Hörenswert ist etwa das Gespräch mit der vierfach amputierten Kölnerin Ami Inthra, die keine Arme und Beine mehr hat und deren Prothesen sich teilweise im Bühnenbild wiederfinden — die aber dennoch ambitioniert Sport treibt, verheiratet und berufstätig ist. Bei der Frage, ob sie sich eher als Göttin oder als Cyborg sieht, antwortet sie klar »Cyborg«. Vielleicht ist der Mensch von heute eben doch eher am persönlichen Weiterleben interessiert als an einer Ewigkeitsvorstellung. Was sind wir bereit, für unser persönliches Überleben aufzugeben? Ab welchem Ich-Bewusstsein, ab welchem Körpergefühl geht eine KI als Mensch durch? Wie erstrebenswert ist diese Überwindung des Todes, wie sinnvoll die endlose Machbarkeitsvision?
Für Regisseurin Andrea Bleikamp ist es am Ende der sechsmonatigen Probenarbeiten, die mitten in die Pandemiebremse fielen und viel Zeit zur Reflexion offen ließen, eindeutig: »Ich bin eher wieder zum Bild des Kreislaufs zurückgekehrt«, erzählt sie, »Der Gedanke, das Altern und Zerfall sinnvoll und gut sind.« Am Ende des Abends ist Schnick in einer großen Gaswolke verschwunden, wird nichts weniger als eine Todeserfahrung des Zuschauers versucht, ein Schwindel, der dem Abgrund zugeht: »Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.« Ein spannendes, philosophisches Projekt und zugleich eine theatralische Grenzerfahrung, auf die man sich — trotz aller Überforderung — definitiv einlassen sollte.