Die Melancholie der Hunde
Selten wurden den Tierwelten der Surrealisten so viel Beachtung geschenkt. Kaum zu glauben, bevölkern doch auffällig viele Spezies die Leinwände ihrer Protagonisten. Bei Max Ernst ist der Vogel ein steter Wiedergänger (besonders sein Alter Ego »Loplop«), bei André Masson sind es Insekten, Fische, Frösche und Reptilien, bei René Magritte Fische und Tauben und bei Pablo Picasso ist es der Stier. Sie alle spielen mit Fantasiegestalten, mit Chimären und Mischwesen, die sich vom Tier zum Menschen oder vom Vogel zum Fisch und umgekehrt verwandeln.
Endlich also eine überfällige Themenschau zum surrealistischen Bestiarium, ausgerichtet vom Max Ernst Museum Brühl mit 74 internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Dort lernen wir auch, wie man der Fantasie praktisch nachhelfen kann: Zur Kreation bizarrer Hybridfiguren entdeckten die Surrealisten Ende der 20er Jahre das Gruppenspiel »Cadavre exquis«: Auf einem ziehharmonikaartig gefalteten Papier zeichnete einer die Beine, ein zweiter — ohne das vorherige zu kennen — den Rumpf, der dritte Brust und Arme, ein weitere den Kopf. Nach demselben Prinzip entstanden auch Texte. Der berühmte Satz »Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein« gab dem Spiel seinen Namen. Laut André Breton, Begründer und geistiger Vater der surrealistischen Bewegung, war der »Cadavre exquis« ein unfehlbares Mittel, das kritische Denken auszuschalten — und dem Geist freie Bahn zu verschaffen. Die Ausstellung zeigt einige besonders kuriose dieser mit kindlicher Energie geschaffenen Figuren.
Mischwesen zwischen Tier und Mensch, die schon in der griechischen und ägyptischen Mythologie ihr Unwesen trieben — Minotaurus, Melusine und Sphinx — , boten sich in besonderem Maße an, die Welt surreal zu übertreten und neue Wirklichkeiten zu schaffen. Breton gab 1933 bis 1939 die Kunst- und Literaturzeitschrift Minotaure heraus. Die Titelbilder ließ er von verschiedenen Künstlern gestalten, darunter Salvador Dali, Marcel Duchamp, Max Ernst, René Magritte, André Masson, Joan Miró und Pablo Picasso. Die in Brühl ausgestellten Blätter lassen keinen Zweifel, dass der Minotaurus sie besonders beflügelte, schien er doch die perfekte Projektionsfläche für ihre Männlichkeitsvorstellungen abzugeben: muskulös und kraftvoll (Picasso), überlegen und diabolisch (Matisse), schillernd und kreativ (Ernst), lustvoll und vielschichtig (Dali). Nur ein Minotaurus will seinem Klischee nicht so recht entsprechen: Der »Minotaurus-Torero« von Maurice Henry blickt unsicher und zweifelnd in sein Spiegelbild.
Die »Surrealen Tierwesen« erzählen viel über männliche Fantasien und Denkmuster. Doch glücklicherweise wird die Ausstellung keineswegs dominiert von der Testosteron-Riege der Surrealisten. Im Gegenteil sind gerade die Arbeiten von Künstlerinnen besonders einprägsam. Die wohl bekannteste ist die Schweizerin Meret Oppenheim, die auf scheinbar einfache Weise Disparates verbindet. So schuf sie ein unverkennbares »Eichhörnchen« aus einem Bierglas und einem Pelz und einen verblüffend lebendigen »Tisch mit Vogelfüßen«. Die aus Argentinien stammende Léonor Fini, eine Freundin Oppenheims, ist eine echte Entdeckung. In dem informativen Katalog erfährt man, dass sie zwar von 1935 bis 1937 an surrealistischen Ausstellungen beteiligt war, aber den »von ihr als dogmatisch empfundenen Vorstellungen Bretons kritisch gegenüber stand«. Ihre laszive »Sphinx« und ihre auf einem Besen reitende Hexe mit grimmiger Katze auf dem Rücken wirken wie selbstbewusste feministische Statements.
Das von Jürgen Pech kuratierte Ausstellungsprojekt mit Beiträgen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Tschechien, Schweden bis nach Mexiko und in die USA dokumentiert, wie stark die surrealistische Bewegung weltweit und bis zur Jahrtausendwende wirkte. Die Präsentation der rund 140 Werke folgt selten einer nachvollziehbaren Logik, vielmehr eröffnet sie ein weites Feld für Assoziationen. Man kann weibliche und männliche Tiermotive erkunden: verrätselte Katzen von Alice Rahon, sexuell aufgeladene Schwäne von Karel Teige und Paul Delvaux, furchteinflößende Gottesanbeterinnen von Max Ernst und Felix Labisse. Es lässt sich verfolgen, wie bestimmte Tiere für die Darstellung verschiedener Gemütszustände genutzt wurden, etwa »Die verwöhnte Melancholie der Hunde« von Dali.
Man kann sich beim Rundgang aber auch spontan auf mitunter krude Fantasien einlassen. Angenommen, »ich bin ein pferd«, malte Hans Arp sich im gleichnamigen Gedicht aus: »ich sitze aufrecht und groß mit meinen Hinterbeinen auf der eisenbahnbank und stütze mich bequem mit den vorderbeinen auf …«
Max Ernst Museum Brühl, Max-Ernst-Allee 1, Di–So 11–18 Uhr, bis 6.2.22, maxernstmuseum.lvr.de