Annette
Der Anfang ist ein großes Versprechen. Während die Leinwand noch schwarz ist, weist eine Off-Stimme darauf hin, dass während der Filmvorführung keine Geräusche im Publikum toleriert würden – nicht einmal ein Atemzug. Und dann sieht man Leos Carax, den Regisseur des Films, in einem Tonstudio sitzen und das amerikanische Pop-Duo Sparks fragen, ob es jetzt losgeht. Und sogleich fangen die Brüder Ron und Russell Mael mit dem Song an, der zum Kino-Ohrwurm des Jahres werden dürfte: »So May We Start«. Sie laufen los, begleitet von den Background-Sängerinnen, die Hauptdarsteller des Films schließen sich an, Adam Driver, Marion Cotillard und Simon Helberg, dann ein Knabenchor, gemeinsam gehen alle im abendlichen Los Angeles auf die Straße und singen so mitreißend wie doppeldeutig davon, zu beginnen. Und bevor gleich noch mit großer Geste ein roter Vorhang aufgezogen wird, ist man schon mittendrin im magischen Carax-Universum mit seiner Genre- und Zitate-Akrobatik.
Der französische Filmemacher schert sich wenig darum, was der Mainstream verlangt. Seine Filme sind radikale, solitäre Werke, die irritieren und begeistern und das Kino als Kunstform feiern und es jedes Mal neu erfinden – von »Die Liebenden von Pont Neuf« (1991) bis zuletzt mit dem grandios-mysteriösen »Holy Motors« (2012). Und der Exzentriker lässt sich Zeit. Seit seinem Debüt »Boy meets Girl« (1984) im Alter von 23 Jahren liefert Carax nun mit »Annette« seinen erst sechsten Film. Ein absurdes Musical, nach einer Idee und mit Songs der Sparks. Auch hier trifft ein Junge ein Mädchen: Henry McHenry (Adam Driver), ein zynischer Stand-up-Comedian und leidenschaftlicher Motorradfahrer, liebt Ann Defrasnoux (Marion Cotillard), eine gefeierte Sopranistin an der Oper. Ihre wilde Romanze mündet bald in die Ehe, und sie werden Eltern eines höchst ungewöhnlichen Kinds, der kleinen Annette. Deren physische Erscheinung nimmt niemand wahr, ihr himmlisches Gesangstalent dafür bald umso mehr.
Henry, zerrissen zwischen Selbsthass und Eifersucht auf Anns Erfolge, wird zunehmend unberechenbar. Carax und die Sparks, Brüder im Geiste, die sich als Pop-Pioniere ein halbes Jahrhundert lang ebensowenig um Massentauglichkeit gekümmert haben, liefern mit diesem existenzialistischen Anti-Musical eine spektakuläre Puppentheater-Rockoper, die ihre künstlerischen Ambitionen stolz ausstellt und erneut beweist, dass Leos Carax als verstörender Kinozauberer einzigartig ist. »Annette« ist ein düster schillernder Triumph.
F/D/J/BE/MX/USA 2021, R: Leos Carax, D: Adam Driver, Marion Cotillard,
Simon Helberg, 131 Min., Start: 16.12.