Der Staublunge entkommen
»Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel«, lässt die 1988 in Frankfurt am Main geborene Deniz Ohde in ihrem Romandebüt »Streulicht« die Protagonistin beim Spaziergang durch ihre frühere Heimat denken. Das Streulicht, durch Staubpartikel gebrochenes Licht, prägt die Stimmung von Ohdes Roman. Eine latente Bedrohung liegt in der Luft, während gleichzeitig die »riesige gestrandete Untertasse«, in der die Erzählerin groß geworden ist, auch Vertrautheit und Geborgenheit bedeutet. »Warum wollte ich gehen«, fragt sie sich. »War es nur gewöhnlicher jugendlicher Tatendrang und Erlebnishunger oder lag es an diesem Ort, diesem spezifischen Fleck Erde, an dem die Luft einen anderen Geschmack hatte.«
Sie kehrt wegen der Hochzeit ihrer Jugendfreunde Pikka und Sophia zurück, die staubige Luft — »als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte« — führt sie in Gedanken zurück in ihre Kindheit und Jugend zwischen Arbeitersiedlung, Zigarettenrauch und Versagensängsten. Ihr Vater lebt noch immer in der Wohnung, in der sie aufgewachsen ist; von ihm zeichnet Ohde das liebevolle Porträt eines Arbeiters, der nutzlose Dinge anhäuft, weil er nie gelernt hat, mit Menschen umzugehen. Ihre türkische Mutter ist bereits vor einigen Jahren gestorben. Sie hatte der Protagonistin vermittelt, ihren Status als Außenseiterin zu akzeptieren, gleichzeitig jedoch vorgelebt, dass ein Entkommen aus den Zuständen möglich ist: Zumindest zeitweise hatte sie sich dem Stress, einen Alkoholiker mit Wutausbrüchen zum Mann zu haben, durch eine eigene Wohnung entzogen.
Weil sie zu leise ist, sich nicht durchsetzen kann, rassistische Alltagserfahrungen macht und ihr als Arbeiterkind ohnehin weniger zugetraut wird, schafft es die Erzählerin nicht bis zum Abitur. »In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen«, beschriebt sie den Druck, aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt auf dem Gymnasium bestehen zu wollen. Einzig durch den Zufall, dass eine Lehrkraft sie unterstützt, gelingt ihr über den zweiten Bildungsweg die Hochschulreife, und sie kann den »spezifischen Fleck Erde«, der sie so sehr geprägt und eingeengt hat, verlassen.
Ohde zeigt in ihrem Roman eindringlich, wie sehr das Bildungssystem in Deutschland von solchen Zufällen abhängt und wie stark der abwertende Blick auf bildungsferne Schichten auch deren Selbstwahrnehmung prägt.