Hypothek für die Zukunft
Auch in Köln steht die Aufarbeitung des kolonialen Erbes endlich auf der Tagesordnung. Die Stadtverwaltung reagiert auf die Proteste der letzten Jahre. Christian Werthschulte hat nachgefragt, welche Ziele sie damit verfolgt und was antirassistische Initiativen davon halten. Dorothea Marcus hat das Rautenstrauch-Joest-Museum besucht, das sich gerade bemüht, die eigene Verstrickung in den Kolonialismus aufzuarbeiten. Und der Fotograf Omar Victor Diop inszeniert sich als marginalisierte Persönlichkeiten der afrodiasporischen Geschichte
Es ist selten, dass die Weltgeschichte einen Zwischenstopp in Köln einlegt, aber im Sommer 2020 war es mal soweit. Zehntausende Menschen versammelten sich auf Kölns Straßen, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren. Der Anlass war die Tötung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen Weißen Polizisten, aber der Grund war ein anderer: Rassismus im Bildungswesen, die fehlende Repräsentation von Schwarzen Menschen in den Medien, die Benachteiligung nicht-weißer Kölner*innen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Und der Kolonialismus. Zwei Wochen nach den Demonstrationen wurde das Reiterdenkmal von Kaiser Wilhelm II. an der Hohenzollernbrücke mit Farbe beworfen — ein Protest gegen seine Rolle im deutschen Kolonialismus.
Er hatte die Expansion nach Übersee aggressiv vorangetrieben. Es war ein Protest mit Folgen. »Im letzten Jahr habe ich gespürt, wie sich die Haltung zum Thema Kolonialismus in Deutschland verändert hat«, sagt Marianne Bechhaus-Gerst, Afrikanistik-Professorin an der Universität zu Köln. Die weltweiten Black-Lives-Matter-Proteste, der Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol und die Debatte um das Humboldt-Forum in Berlin und Reparationen an die Herero und Nama hätten das Thema Kolonialvergangenheit auf die Agenda gesetzt — auch hier in Köln. Erst vor wenigen Wochen hat die Stadtverwaltung einen Prozess angestoßen, um das koloniale Erbe Kölns aufzuarbeiten — »in geordneten Bahnen«, wie Oberbürgermeisterin Henriette Reker sagt. Zwei Jahre soll das dauern, am Ende soll ein Maßnahmenkatalog stehen. »Man muss sehen, wie nachhaltig das alles ist«, sagt Bechhaus-Gerst.
Die Spuren des Kolonialismus sind präsent Bechhaus-Gerst ist Historikerin und Aktivistin. Als Teil der Initiative »Köln Postkolonial« hat sie vor 13 Jahren — »eine ziemlich lange Zeit« — die erste Ausstellung über das koloniale Erbe Kölns zusammengestellt und im Kölschen Stadtmuseum gezeigt. Erst im Dezember hat sie mit dem interkulturellen Zentrum Integrationshaus e.V. und dem Verein Migafrica eine Karte erstellt, die im Internet abrufbar ist. Darauf sind Orte verzeichnet, an denen man heute im Kölner Stadtbild Spuren des deutschen Kolonialismus entdecken kann. Dazu gibt es einen erklärenden Text bzw. ein Audiofile. Da ist die Moltkestraße im Belgischen Viertel, benannt nach dem preußischen General Helmuth Graf von Moltke. Schon im mittleren 19. Jahrhundert befürwortete er die deutsche Expansion nach Übersee und später den deutschen Kolonialismus. So lobte er etwa das »schneidige Vorgehen« von Hermann Wissmann, der zwischen 1888 und 1890 einen Aufstand der Küstenbevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Tansania brutal niederschlug. Wissmann ist auf dem Melatenfriedhof begraben, in Ehrenfeld ist zudem eine Straße nach ihm benannt.
Nordwestlich davon, am Takuplatz, erinnert eine Plakette an den Beschuss des Taku-Forts durch deutsche Truppen während des chinesischen Boxerkriegs (1899–1901), als sich dort Yihetuan verschanzt hatten, die gegen die westliche Präsenz in China kämpften. Beschossen wurde das Fort durch das Kanonenschiff Iltis, dem die benachbarte Straße gewidmet ist. Im sogenannten Afrikaviertel in Nippes begann schon in den 90er Jahren die Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit. Eine Straße, die nach Adolf Lüderitz benannt war, der durch Täuschung der Nama die deutschen Kolonien im heutigen Namibia begründete, wurde ebenso umbenannt wie eine Straße, die Carl Peters ehrte, der als Reichskommissar im heutigen Tansania mit brutaler Willkür herrschte und von den Nationalsozialisten als Kolonialheld verehrt wurde. Und dann ist da noch die M-Straße im Gereonsviertel: Viele Initiativen würden sie gerne nach dem Schwarzen Kölner Sozialdemokraten Theodor Wonja Michael benennen, der als Kolonialmigrant Kaiserreich und NS-Zeit überlebte und in der BRD als Diplomat reüssierte. Seine Enkel und Urenkel leben noch immer in Köln.
»In der Schule und an der Universität wird die Kolonialzeit bis heute vernachlässigt. Das muss sich ändern. Aber auch eine Straße kann ein guter Lern- und Erinnerungsort sein«, sagt Bebero Lehmann. Auch sie ist Historikerin und forscht über Kolonialgeschichte. Lehmann ist Afrodeutsche, Kölnerin und Teil der Initiative Decolonize Cologne, die mit Vorträgen und Stadtführungen in Köln an den Kolonialismus erinnern will. »Wichtig ist dabei der Perspektivwechsel«, sagt Lehmann. Bei ihren Führungen durchs Afrikaviertel legt sie deshalb den Fokus weniger auf die Verbrechen des Deutschen Reiches als auf den Schwarzen Widerstand gegen den Kolonialismus. An der Gustav-Nachtigal-Straße erzählt sie etwa die Geschichte von Rudolf Manga Bell, einem Duala-König aus Kamerun. Er studierte in Deutschland und erlebte, wie die deutsche Kolonialverwaltung in Kamerun sich nicht an Verträge hielt und Teile seines Volkes umsiedeln wollte. Als er dagegen protestierte, wurde er wegen Hochverrat angeklagt, zum Tode verurteilt und im August 1914 schließlich hingerichtet. An der Usambarastraße, der ehemaligen Lüderitzstraße, schildert Lehmann dann das Leben von Cornelius Fredericks, einem der Führer des Nama-Aufstands, der im Lager verstarb. »Das Wissen über Kolonialgeschichte kann empowernd sein«, sagt Lehmann, »wenn wir sie als Geschichte der Schwarzen Präsenz und des Schwarzen Widerstands erzählen.« Ihr persönlich habe der Blick in die Geschichte geholfen, ihre eigenen Erlebnisse mit Rassismus zu verstehen und Widerstand zu leisten. Ein Projekt wie die Theodor-Wonja-Michael-Bibliothek, die gerade in Köln entsteht, könne das gleiche für jüngere Schwarze Deutsche leisten.
Das Erinnern an den Kolonialismus muss plural sein. Es macht einen Unterschied, ob die eigenen Vorfahren Teil der deutschen Kolonialverwaltung waren oder ihre Subjekte, denn dies beeinflusst auch die Perspektive, mit der wir heute auf diese Geschichte blicken. »Bei den Themen Rassismus und Kolonialismus sind auch weiße Menschen gefragt«, sagt Merle Bode von Decolonize Cologne, »es geht darum, eigene Privilegien machtkritisch zu hinterfragen.« Die Historikerin promoviert über »Weißsein in der deutschen Frauenbewegung« — das ist ihr akademischer Background. Privat hat sie zuletzt über ihre eigene Familie geforscht. Ihr Urgroßvater war Kolonialsoldat in der Kriegsmarine in China, wo er den Widerstand gegen das Deutsche Reich bekämpfte. 1933 trat er der NSDAP bei und machte Karriere im Nationalsozialismus. »Die Kolonialgeschichte ist mit meiner Familiengeschichte verwoben«, sagt Bode. Sich damit auseinanderzusetzen, könne ebenfalls ein gutes didaktisches Mittel sein, um über den deutschen Kolonialismus zu lernen. »Ich lese dann nicht darüber in einem Buch, sondern es gibt eine Verbindung zu meiner eigenen Geschichte, zu dem, wo ich herkomme«, sagt Bode. Und eigentlich müsste man hinzufügen: Es hat auch damit zu tun, wo ich stehe. Denn die Erinnerung an den Kolonialismus ist eine Vergegenwärtigung. Seine Spuren sind heute sichtbar, wenn man weiß, worauf man achten muss — auch abseits von Straßennamen. Die Baugruppen und Investoren, die auf dem Clouth-Gelände gebaut haben, haben etwa auf dem Grundstück einer Gummifabrik gebaut, deren wirtschaftlicher Erfolg auf dem Import von Kautschuk aus den deutschen Kolonien beruhte. Der Karnevalsverein »Ehrenfelder Chinesen« bezieht sich schon im Namen auf die Niederschlagung der Boxerbewegung. Und auch die Sammlung des Rautenstrauch-Joest-Museums entstammt der Kolonialzeit.
Für Eli Abeke sind die Benin-Bronzen des Museums der primäre Erinnerungsort an den deutschen Kolonialismus. »Seit 27 Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema«, sagt der Architekt, der aus politischen Gründen seine Heimat Nigeria verlassen hat und nach einem Studium in Bremen seit zwanzig Jahren in Köln lebt. Hier saß er lange im Integrationsrat, im vergangenen Jahr brachte er einen Antrag auf den Weg, dass die Stadt Köln das N-Wort ächtet. Im Rat der Stadt Köln wurde er mit überwältigender Mehrheit angenommen. Aber ins Erzählen kommt Abeke, wenn es um die Bronzen geht. Dann redet er über das neue Museum, das für sie in Benin City entstehen soll, darüber, dass sie ursprünglich im Freien ausgestellt waren, und er erzählt die Geschichte der Replik einer Elfenbeinmaske aus dem Königreich Benin, die 1977 das Symbol eines panafrikanischen Kulturfestivals in der nigerianischen Hauptstadt Lagos gewesen ist. Das Original dieser Maske befindet sich im British Museum in London. Die Benin-Bronzen sind das Thema, bei dem die Geschichte von Eli Abekes Volksgruppe auf die Gegenwart der deutschen Kulturdiplomatie trifft — und zugleich ein Problem verdeutlicht: Auch wenn die Spuren des Kolonialismus hier in Köln sichtbar sind, bedeutet das nicht, dass allein in Köln entschieden werden kann, wie damit umgegangen wird. Über die Benin-Bronzen des RJM etwa wurde zuerst auf diplomatischer Ebene von der Bundesregierung verhandelt, bevor nun der Stadtrat einen Beschluss über ihre Rückgabe fällen kann.
Aktivismus trifft auf Bürokratie
Vermitteln muss diese Grenzen unter anderem Fabian Stangier. Der Islamwissenschaftler arbeitet beim Amt für Integration und Vielfalt und will von dort aus die Aufarbeitung des Kolonialen Erbes Kölns anstoßen. »Das Thema ist dabei nicht so sehr die Kolonialzeit an sich, sondern ihre Auswirkungen: der Alltagsrassismus, wie wir Menschen beschreiben oder wie wir auf Regionen und Religionen schauen«, sagt Stangier. Anfang Oktober hat der Prozess mit einer großen Auftaktveranstaltung im VHS-Forum begonnen.
Bei einer Podiumsdiskussion diskutierten die Teilnehmer*innen über die Auswirkungen des Kolonialismus zwischen Alltagsrassismus und globaler Klimagerechtigkeit, dazwischen haben sich lokale und regionale BIPOC-Initiativen vorgestellt. »Die Veranstaltung war innerhalb weniger Stunden ausgebucht«, erzählt Stangier. Die Reaktionen waren trotzdem gemischt. »Manchen, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen, ging es nicht genügend in die Tiefe, aber andere haben mir gesagt, dass sie jetzt endlich verstünden, worum es dabei geht«, sagt Stangier. Und das sei ein Ziel des Prozesses: Er soll einen Dialog anstoßen zwischen den verschiedenen Gruppen der Stadtgesellschaft.
Vor dem Dialog steht jedoch die Gremienarbeit. Die Stadt Köln möchte mit zehn Vertreter*innen aus verschiedenen Communitys einen Expert*innen-Beirat zum Thema Kolonialismus gründen. Er soll mindestens zwei Jahre bestehen. In dieser Zeit soll er einen Maßnahmenkatalog erarbeiten, wie mit dem Kolonialerbe umgegangen werden soll. Seine Glaubwürdigkeit gewinne der Prozess durch die Beteiligung der verschiedenen Initiativen, sagt Stangier: »Es gibt sicher die Angst, dass wir als Stadt Köln jetzt wie ein Bulldozer über das fahren, was die verschiedenen Initiativen schon aufgebaut haben.« Um diese Angst zu lindern, sei es besonders wichtig, dass das Gremium transparent dokumentiere, was dort passiere.
Die Aktivist*innen begleiten den Prozess mit kritischer Sympathie. »Ich finde begrüßenswert, dass viele Initiativen von POCs dort eingebunden werden sollen«, sagt Marianne Bechhaus-Gerst und erinnert an das antirassistische Prinzip »Nicht über uns ohne uns«. Eli Abeke hofft, dass durch den Prozess die verschiedenen Communitys und Initiativen stärker zusammenarbeiten. Sein Beispiel dafür ist die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, die Anfang der 90er Jahre gegründet wurde und mittlerweile aus Diskussionen über Rassismus und Diversität nicht mehr wegzudenken ist. Aber auch da gibt es in Köln eine Lücke: Die verschiedenen Schwarzen Communitys sind in Köln gut organisiert, bei den asiatischen Communitys ist dies bislang kaum der Fall, obwohl sie eine wichtige Rolle spielen — nicht nur in der Frage, wie mit dem Takuplatz umgegangen werden soll, sondern auch, weil in der Corona-Pandemie anti-asiatische Stereotype und Diskriminierungen wieder populär geworden sind.
Dekolonialisierung braucht Verbindlichkeit
Marianne Bechhaus-Gerst bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel: »Die meisten Initiativen sind arm. Wenn man etwas verändern will, dann muss man auch Geld in die Hand nehmen.« Auch Bebero Lehmann von Decolonize Cologne betont, dass die Arbeit im Beirat nicht ehrenamtlich sein dürfe: »Bei anderen städtischen Aufträgen erwartet ja auch niemand, dass Menschen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten kostenfrei zur Verfügung stellen.« Sie verweist auf ähnliche Prozesse in Hamburg und Berlin. Allerdings habe gerade in Hamburg die Verbindlichkeit gefehlt. »Da ist noch nichts passiert, das sollte sich in Köln nicht wiederholen.« Fabian Stangier ist sich dieser Probleme bewusst: »Wir sind kein Stadtstaat wie Hamburg oder Berlin, der seine eigenen Lehrpläne bestimmen kann.« Aber auch an Kölner Schulen herrsche Lehrmittelfreiheit und mit der VHS verfüge die Stadt über einen Bildungsträger, der sich des Themas annehmen könne.
Stangier sieht die Stadtverwaltung jedoch vor allem in einer Vermittlerrolle. Sie soll der Mechanismus sein, mit deren Hilfe sich die Interessen von BIPOC-Initiativen und der weißen Mehrheitsgesellschaft austarieren sollen. Und da können die Konflikte sehr schnell sehr spezifisch werden: Anwohner*innen könnten gegen eine Umbennung ihrer Straße protestieren, Karnevalsvereine wenig Einsicht zeigen, dass ihre Kostüme oder ihr Name rassistische Sichtweisen reproduzieren. Und dann gibt es da noch das Selbstbild der Kölner*innen als weltoffene und tolerante Stadtgesellschaft. »Grundsätzlich ist es nicht schlecht, wenn Weltoffenheit und Toleranz positive Werte sind«, sagt Berbero Lehmann. Allerdings dürfe das nicht dazu führen, dass man denkt, dass Rassismus deshalb nicht thematisiert werde, weil man ja kein Rassist sein könne. »Letztlich sind wir alle in einem rassistischen System sozialisiert. Aber ich finde trotzdem, dass man der Mehrheitsgesellschaft da ruhig etwas mehr zutrauen kann.«
Text: Christian Werthschulte
desintegration.ihaus.org
Perspektiven umkehren
Das Rautenstrauch-Joest-Museum geht neue, radikale Wege der Dekolonisierung
Sichtlich ist sie ergriffen. Zum ersten Mal steht Peju Layiwola aus Nigeria im Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) in dem Raum, den sie entworfen hat. Zum ersten Mal berührt sie jene weibliche, prächtig geschmückte Benin-Bronze mit den großen Augen und vielen Halsringen. Die Königsmutter von Anfang des 19. Jahrhunderts gehört mutmaßlich zu jenen mehr als 1000 Schätzen, die im Jahr 1897 durch die britische Armee vom Königshof geraubt und in Museen des globalen Nordens verteilt wurden. Ehrfurchtsvoll fährt Layiwola die Konturen entlang, wiegt ihr Gewicht in der Hand. »Eine erstaunliche Erfahrung«, sagt sie: »Ich spüre auch die symbolische Last: die Enteignung, die Gewalt, die Traumata«. Knapp drei Wochen lang ist die Künstlerin und Professorin für Kunstgeschichte der Universität Lagos in Köln zu Besuch, führt Gruppen durch den Schatz ihrer Vorfahren, gibt Interviews, besichtigt den Kölner Dom. »Was würden Sie eigentlich sagen, wenn Sie, um den Kölner Dom zu betreten, nach Lagos fahren müssten?«, fragt sie eine Besucherin, »so fühlen wir uns, wenn wir in europäische Museen reisen müssen, um zu sehen, was unser Eigentum ist«.
Peju Layiwola ist gegenwärtig eine der prominentesten Stimmen im Diskurs zur Restitution kolonialer Raubkunst. Als direkte Nachfahrin des Benin-Königshauses im heutigen Nigeria ist sie aber auch direkt emotional betroffen. Als die Direktorin des RJM, Nanette Snoep, sie fragte, ob sie einen der vier »autonomen« Räume in der Kölner Ausstellung »Resist!« kuratieren wolle, sagte sie nur unter einer Bedingung zu: dass sie alle 96 Benin-Objekte des Museums zeigen dürfe. Denn ein wichtiger Teil der absurden und anrüchigen Geschichte kolonialer Beutekunst ist, dass die gewaltsam geraubten Objekte in westlichen Museen zu 90 Prozent in den Depots lagern. Erst wurden sie gestohlen, dann weggesperrt. Durch Layiwolas Initiative sind nun die 96 Objekte des RJM erstmals öffentlich zu sehen: »Sie sollten da sein, wo sie hingehören — nicht hinter Glasvitrinen von westlichen Museen oder ihren Kellern«, sagt sie — und hat viele Objekte bewusst im Schaumstoff der Archiv-Koffer gelassen, mit kleinen weißen Inventarschildern. Peju Layiwolas autonomer Raum »Benin 1897« im RJM soll aber auch größere historische Linien zeigen: ein visuelles Tagebuch umgibt die Außenwände, darauf sind Gedichte und Zeichnungen zu sehen. Im Video rappt der Edo-Musiker Monday Midniter vor dem Buckingham Palace wütend über das Massaker der Briten an seinem Volk und die Plünderung seines kulturellen Erbes. Eine Karikatur fragt, warum eigentlich Migranten aus Afrika aus Europa vertrieben werden, die Schätze ihrer Vorfahren dagegen nicht gehen dürfen. Ein Teppich aus farbigen und schwarzweißen Stoffstücken symbolisiert für Layiwola das Konzept von Widerstand: »Wachs und Stärke verhindern, dass Farbstoff überall hinfließt und erzeugt ein neues Muster — ebenso wie die Stimme von Kolonisierten neue Muster der Wahrnehmung erzeugen werden«, sagt sie.
»Resist!«, verlängert bis zum 9. Januar, sollte eigentlich die große Antrittsausstellung der Direktorin des Rautenstrauch-Joest-Museums Nanette Snoep sein. Snoep ist eine angesehene Anthropologin, wurde 1971 in Utrecht geboren und wirkte vor ihrem Vertragsbeginn 2019 an Universitäten und in Museen in Paris und Dresden. Nichts weniger als eine Revolution in der deutschen Museumslandschaft will sie nun von Köln aus bewirken — von der sich das frisch eröffnete und äußerst umstrittene Humboldt Forum in Berlin, jene rückwärtsgewandte Schloss-Reinszenierung reicher Privat-Investoren, manches abschauen könnte. Eigentlich sollte »Resist!« bereits im November 2020 eröffnet werden, aufgrund der Corona-Pandemie wurde das fünfmal verschoben. Die Fragen und Ansätze der Ausstellung sind in der Zwischenzeit noch drängender geworden — und Nanette Snoep ist entschlossen, sie radikal zu beantworten: Mit welchem Recht besitzen deutsche Museen koloniale Raubkunst? Wie kann man die Objekte weiter präsentieren? Und was bleibt von denen einst als nationale Repräsentations-Tempel gedachten Institutionen übrig, wenn sie diese Raubkunst endlich zurückgeben? Sind ethnologische Ausstellungen überhaupt noch zeitgemäß oder in ihrer Haltung nicht per se neokolonial? Was bedeutet überhaupt die Kategorisierung »ethnologisch« — hatte da die Wissenschaft nicht stets die moralisch anrüchige Agenda, angeblich »Wilde« zu »zähmen«? Müsste es nicht vielmehr um künstlerische Aspekte der Werke gehen? Wie kann man ein Museum dekolonisieren?
Bekanntlich ist das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum das einzige ethnologische Museum in NRW und mit seiner mehr als 120 Jahre alten Sammlung von 65.000 Objekten aus Ozeanien, Afrika, Asien und Amerika eines der größten in Deutschland. Bis 2010 war das lichtdurchflutete Museumsgebäude aus rotem Backstein am Neumarkt einer jener teuer ausufernden Bau-Skandale in Köln. Nach erfolgreicher Eröffnung wandelte es sich — und dies architektonisch endlich auch mal gelungen — tatsächlich zum Aushängeschild der Stadt. Mit Nanette Snoep könnte es nun sogar zur Speerspitze des Dekolonisierungsdiskurses in der deutschen Kulturlandschaft werden. Die geplante Rückgabe der 96 Kölner Benin-Schätze an Nigeria noch im Jahr 2022 ist davon ein wichtiger Teil. Gerade hat Snoep sich auf einer international besetzten Podiumsdiskussion des Museums im Dezember 2021 noch einmal öffentlich die Rückendeckung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker dafür geholt, nun muss der Stadtrat entscheiden. Doch dazu später.
Dass sich etwas fundamental geändert hat, dass nun teilgenommen, diskutiert, kritisiert, in Frage gestellt werden kann, zeigen »Resist!« und auch der gerade eröffnete Rundgang »Counter-Images« im RJM eindrucksvoll. Nichts weniger als eine neue Geschichtsschreibung soll hier initiiert werden. Während »Resist!« erstmals gebündelt Widerstandsstrategien gegen den Kolonialismus zeigt, beschäftigt sich »Counter-Images« mit neuen Darstellungsweisen gewaltvoller Fotografie aus der Kolonialzeit. Sollten die brutalen Bilder der Unterdrückung Schwarzer Menschen überhaupt heute noch gezeigt werden? Schreiben sie nicht Klischees fest, die überwunden werden müssen? Es gibt da unterschiedliche Haltungen — und diese sind im Museum auch erwünscht. Während unten im autonomen Raum von den Herero-Nama-Aktivistinnen Esther Utijua Muinjangue und Ida Hoffmann — durch Vorhänge abgetrennt — drastische Bilder von verhungerten Opfern gezeigt werden, sind sie im 1. Stock des Museums durch künstlerische Interventionen verfremdet — ein »Gegen-Blick«, der von nun an die Ausstellungs-Rundgänge begleiten und in mehreren Kapiteln weiterentwickelt wird.
So ausführlich wie in »Resist!« wurde die 500 Jahre alte Geschichte des antikolonialen Widerstands aus dem globalen Süden noch nie dargestellt. Bewusst funktioniert die Ausstellung nicht, wie bisher in ethnologischen Museen üblich, als Kulturen vergleichende Übersicht, sondern als »partizipative Plattform, die von allen beschrieben werden kann. Denjenigen, die bisher zu wenig gehört wurden, gibt sie eine Stimme«, so Nanette Snoep, die gern selbst durch das Museum führt. 40 zeitgenössische Künstler*innen, meist aus dem globalen Süden, durften mitgestalten, einige davon wie Kiri Dalena und Yasmine Eid-Sabbagh sind zur nächsten Documenta eingeladen. Ausdrücklich will Nanette Snoep auch Menschen aus den diasporischen Communitys Kölns einbeziehen, Raum für Kritiker*innen lassen, das Haus als Begegnungsstätte öffnen und — macht es zuweilen sogar zur Tanzfläche, Filmwerkstatt, Bühne. Einen der vier autonomen Räume hat der neue In-Haus e.V. aus Kalk kuratiert, der sich für eine »post-migrantische Gesellschaft in einer demokratischen Republik« engagiert, aber auch die Jugendwerkstatt Köln-Chorweiler und Coach e.V. haben Teile der Ausstellung gestaltet. »Viele junge Leute fühlen sich empowert durch die Ausstellung und können sich auf einmal neu mit ihren Vorfahren identifizieren«, sagt Nanette Snoep, erwähnt Black Lives Matter und zeigt die mit Bleistift gezeichneten Protagonisten der Amistad-Rebellen, eine der spektakulärsten Geschichten des Widerstands. Durch geheime Zeichen und mit Hilfe nicht gefesselter Kinder verständigten sich Sklaven im Jahr 1839 auf dem Handelsschiff »Amistad« und befreiten sich schließlich. Nach der Niederschlagung des Aufstands gewannen sie einen Gerichtsprozess, der zur Abschaffung der Sklaverei in den USA beitrug: eine kaum erzählte Begebenheit, die selbst im Hollywood-Film von Steven Spielberg 1997 lediglich als weiße Heldengeschichte inszeniert wurde. In der Ausstellung bekommen die schwarzen Protagonist*innen nun Namen und Gesichter. Spannend ist es, die subversiven Ausprägungen von Widerstand zu sehen: etwa, wie sich Communitys heimlich Botschaften in nägelbesetzte Ritualfiguren steckten. Oder wie ein togolesisches Theaterkollektiv auf Video Witze über den kolonialen Unterdrücker erzählt: »Wer mal einen weißen Hintern gesehen hat, hat keine Angst mehr vor ihm«. Mit Vorsicht und Rücksicht versucht das Museum auch auf die Anliegen der Kolonisierten einzugehen: eines jener »Geistertanz-Kleider«, museales Relikt des Massakers an native americans von 1890 am Wounded Knee, ist in einem Schrank aus Milchglas nahezu unsichtbar gemacht: »Wir sind gebeten worden, die Kleidung von potentiell Ermordeten nicht mehr zu zeigen«, erklärt dazu Snoep.
Versöhnung und Konflikte
Aber es geht auch um Versöhnung, Resilienz und Heilung: Nicht umsonst stellt der südafrikanische Fotograf Peter Magubane, der älteste zu »Resist!« eingeladene Künstler, der wie kein anderer den Widerstand gegen das südafrikanische Apartheids-Regime einfing, ein liebevolles Bild in den Mittelpunkt: Auf einer Parkbank steht »Europeans only«, ein weißes, offenbar reiches kleines Mädchen sitzt darauf. Dahinter sitzt seine schwarze Nanny — und umarmt das Mädchen zärtlich: Zuneigung und Empathie können den Hass überwinden, so die Botschaft. Am Ende des Rundgangs hat die brasilianische Künstlerin Luiza Prado mit Kissen, einem Tisch und Hängematten einen Raum der Zusammenkunft geschaffen, um Gegenpraktiken zur Gewalt zu betonen: Vernetzung, Solidarität und Gemeinschaft.
Dass kritische Positionen nötig sind, um die Institution des ethnologischen Museums in Frage zu stellen, aber emotional auch entgleisen können, zeigt sich dann aber auf einer international besetzten Podiumsdiskussion zur Ausstellung Anfang Dezember. Zunächst scheinen sich alle einig zu sein: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, deren mit dem Philosophen Felwine Sarr verfasster Restitutions-Report im November 2021 zur Rückgabe von 26 Benin-Schätzen durch Frankreich führte, bezeichnet den begonnenen Rückgabe-Prozess als »historischen Einschnitt ähnlich dem Fall der Berliner Mauer: Es gibt kein Zurück mehr«. Auch Peju Layiwola spricht von einer »Phase der Versöhnung und Erneuerung«, die jetzt beginne. Andreas Görgen, Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt und maßgeblich an den Verhandlungen mit der nigerianischen Regierung beteiligt, spricht vom Transfer des Eigentum-Titels nach Nigeria, aber auch von möglichen »Leihgaben« und einer »Zirkulation« zwischen Afrika und Europa: »Mein wildester Traum wäre, wenn Nigerianer entscheiden, dass einige Schätze auch in europäischen Museen zu sehen sind. Sie haben eine universelle Ausstrahlung und Agenda.« Doch da kocht die Stimmung bei den eingeladenen Aktivist*innen im Saal hoch. Sie beschimpfen Görgen als »arrogant«, »Bürokraten« und »weißen Mann«. Tatsächlich ist er, wenn auch nicht unbedingt arrogant, der einzige weiße Mann auf dem Podium, denn Nanette Snoep hat klug auf die Auswahl der Diskussionspartner geachtet. Denn das, was die ghanaische Autorin und Filmemacherin Nana Ofaryatta Ayim kritisiert, trifft heute Abend im RJM nicht zu: »Viel zu oft wird die Restitutionsdebatte von westlichen Akademikern und Museumsdirektoren dominiert«, sagt sie. »Die Phrase von der Augenhöhe ist leer, weil Stimmen von Afrikanern immer noch zu wenig gehört werden. Es geht nicht darum, hier oder da ein paar Objekte wiederzugeben, sondern um eine reale Veränderung von innen — und das ist ein langer und schmerzvoller Prozess.« Einen spannenmden Impuls wirft dann noch Felwine Sarr selbst in die Runde, der die Revolution der Restitution mit ins Rollen brachte und per Video aus dem Senegal zugeschaltet war. Sarr erzählt, wie unglaublich emotional die Rückgabe im November in Nigeria gewesen sei: »Ein Ereignis, das eine unermesslich tiefe Bedeutung zu tragen schien«. Aber zugleich, sagt er, sollten sich deutsche Kurator*innen heraushalten aus den Musealisierungs-Prozessen in Afrika, auch wenn Görgen vorhin noch erzählte, dass Deutschland dort nun ein Museum unterstützt und in regelmäßigem Austausch mit afrikanischen Museumsmachern ist: »Afrikaner haben es satt, »ethnologisiert« zu werden. Wir wollen vielleicht ganz andere Museen als sie. Ähnlich wie das neue »Musée de la civilisation africaine« in Dakar sollen es lebendige Orte sein, angebunden an zeitgenössische afrikanische Kunst«. Dass das Rautenstrauch-Joest-Museum genau an diese Vorstellung anknüpft, das nimmt man seiner Direktorin Nanette Snoep ab.
Über die Rückgaben der 96 Benin-Schätze aus Köln müssen nun Kulturamt und der Stadtrat entscheiden: »Wir als Museum können sie gerne beraten, damit es schnell gehen kann«, sagt Nanette Snoep, die am liebsten alle Kunstwerke aus Benin bereits 2022 zurückgeben möchte. Im März wird erst einmal eine nigerianische Delegation nach Köln kommen, um darüber zu verhandeln. Erst, wenn das Eigentum der Objekte vollständig in nigerianischer Hand sei, könne man über Leihgaben, Zirkulation, Rückkehr diskutieren. Die Existenz des Rautenstrauch-Joest-Museums sieht Nanette Snoep damit nicht in Gefahr. Im Gegenteil: »Es ist eine unglaubliche Ehre und eine Herausforderung, ein ethnologisches Museum gerade jetzt neu zu denken«, so Snoep.
Text: Dorothea Marcus