»Monobloc«: Ein Stuhl geht um die Welt

Mit und ohne Mehrdeutigkeit

Das Festival »Stranger Than Fiction« zeigt kapitalistische Realitäten

Der Titel des Films, der am 28. Januar das Dokumentarfilmfestival Stranger Than Fiction eröffnet, klingt wie ein Menetekel: »We Are All Detroit« handelt vom industriellen Niedergang, für den die einstige Motor-City zum Synonym geworden ist. Dabei nehmen Ulrike Franke und Michael Loeken den Abriss des geschlossenen Opel-Werks in Bochum zum Anlass, einen Bezug zur Lage der US-Metropole herzustellen, in der General Motors, der langjährige Mutterkonzern des deutschen Automobilbauers, seinen Stammsitz hat.

Indem sie ihre deutschen und amerikanischen Gesprächs­partner*innen gleich zu Beginn ein Sonett von Andreas Gryphius vorlesen lassen, werfen die Kölner Filmemacher*innen die Frage auf, ob der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel jenem Gesetz irdischer Vergänglichkeit folge, das der Barockdichter lyrisch beschwor. Binnen zwei Stunden lernen wir dann mehrere Detroiter*innen kennen, deren hemdsärmelige Unverwüstlichkeit den schicksalsergebenen Dichterworten ebenso zu widersprechen scheint wie die rhetorischen Girlanden, mit denen in Bochum Investoren und Regionalpolitiker ein neues DHL-Logistikzentrum auf dem ehemaligen Fabrikgelände bekränzen.

Dabei zeichnet sich ab, dass es nicht zuletzt von staatlichen För­dergeldern abhängt, inwiefern die Zukunft der Ruhrgebietsstadt jemals der Gegenwart Detroits gleichen mag. Zugleich bietet der Film Beispiele dafür, dass in der größten Stadt Michigans rührende urbane Landwirtschaft und braves Kleinunternehmertum ebenso vereinzelt zwischen Industriebrachen gedeihen wie Hipster-Gentrifizierung und Bauspekulation. Trotzdem böte sich dort gewiss reichlich Gelegenheit, die schmissige Botschaft von Werbeplakaten mit nahem Straßenelend zu kontrastieren, wie Franke und Loeken es einmal in der Manier klassischer FSA-Fotografien tun.

Während »We Are All Detroit« ohne ein kommentierendes Wort seiner Regisseur*innen vielschichtige Ambivalenz erreicht, streut Hauke Wendler in »Monobloc« (regulärer Kinostart 27.1.) mit ähnlichem Ziel Reflexionen aus dem Off ein. Außerdem gönnt er sich und dem Publikum ein paar verspielte Regieeinfälle, wobei die Inszenierung den betriebenen Produktionsaufwand hervorkehrt. Das ergibt einen vergleichsweise gefälligen Dokumentarfilm — was den unvermuteten Reiz des behandelten Gegenstandes nicht schmälert.

Das titelgebende Allerweltsmöbel verdankt seinen Namen dem Umstand, dass es aus einem Guss entsteht, also aus einem Block. Wendler besucht einen italienischen Familienbetrieb, der im Laufe der Jahrzehnte von dem schlichten Plastikstuhl besonders viele Exemplare hergestellt hat, und er spielt Videoaufnahmen jenes verstorbenen Franzosen ein, der als Erfinder des Monobloc gilt. Eine Museumsausstellung bietet wiederum Gelegenheit, auf das utilitaristische Potenzial hinzuweisen, das dem billigen Massenprodukt theoretisch innewohnt. Und Episoden in Kalifornien, Uganda und Indien messen die optimistische Theorie immerhin ansatzweise an der kapitalistischen Praxis — die wohl wesentlich mehr Plastikschrott hinterlässt, als zuletzt angedeutet wird.

Ein anderer Film des 20 Titel umfassenden Programms kommt dagegen ohne jede Mehrdeutigkeit aus: Silvina Landesman nimmt eine unverhohlen parteiische Perspektive ein, wenn sie anderthalb Stunden lang an der Seite einer Handvoll Mitglieder von Breaking the Silence bleibt. Dieser israelische Verein übt hartnäckig Kritik an der Politik seines Staates gegenüber den Palästinensern, indem er Armeeangehörige dazu bewegt, durchs Sprechen über eigene Erfahrungen die inhumane Wirklichkeit der Besatzung zu enthüllen.

In »The Silence Breakers« begleitet die Kamera BtS-Mitglieder beim Verteilen von Flugblättern, beim Vortrag an einer Universität, bei Medienauftritten und Gerichtsterminen oder bei Führungen von (offenbar mehrheitlich: ausländischen) Besuchern durchs besetzte Hebron. Aber erst die scheinbar beiläufigen internen Diskussionen machen klar, wie präzise die Organisation ihre Taktiken reflektiert, damit diese dem strategischen politischen Ziel, der Beendigung der Besatzung, dienen können — und sich nicht etwa umfunktionalisieren lassen zu vermeintlichen Verbesserungsvorschlägen für eine »humanere« Besatzung.

Dass Landesman solche komplexen Aspekte vermitteln kann, ohne Interviews zu führen oder ei­­gene Kommentare einzustreuen, macht uns zugleich die Effizienz be­­wusst, mit der sie den Film strukturiert. So kommt auch die andere Seite der inner-israelischen Debatte ausführlich zu Wort, sei es in media­len Stellungnahmen von Regierungspolitikern und Militärs oder beim informellen anonymen Streitgespräch mit einzelnen BtS-Mitgliedern.

Zwar bedienen sich Passant*innen in Tel Aviv sowie Siedler*innen und Soldat*innen in Hebron grober Mittel, wenn sie BtS-Aktivist*innen wiederholt beschimpfen, bedrohen oder schikanieren. Allerdings zeichnet sich ab, dass auch die israelische Rechte ein klares Bewusstsein strategischer Ziele besitzt. So kristallisiert sich heraus, warum »The Silence Breakers« auch fürs hiesige Publikum direkte Relevanz besitzt: weil sowohl die porträtierte Organisation als auch ihre Gegner den inländischen Kampf um die öffentliche Meinung offenbar stets mit Blick aufs westliche Ausland führen. Weshalb wiederum die einzige Kritik, die man an dem Film üben möchte, denn auch darin besteht, dass er die Abhängigkeit des Vereins von westlichen öffentlichen Geldern nicht gezielter reflektiert.

»Monobloc«, D 2021, R: Hauke Wendler, 90 Min.