»Der Frieden in Belfast ist fragil«
»Belfast« handelt von einer zunächst glücklichen Kindheit, von gesellschaftlichen Spannungen und der Gewalteskalation 1969. Geht es um die Bewältigung eines persönlichen Traumas? Ich wollte nicht, dass »Belfast« eine Therapie wird — in dem Sinn, dass man zu nachsichtig mit den Geschehnissen von damals umgeht. Die Charaktere, die Pa und Ma genannt werden, sind universelle Figuren. Ich versuche, die Geschichte so offen zu halten, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen, und auch die Zuschauer*innen ihre miteinfließen lassen können, die nicht dieselben sind wie meine und auch nicht notwendigerweise so stark von Gewalt geprägt. Es gibt in »Belfast« ein Gefühl von Sicherheit. Das Bewusstsein, wer man ist. Sogar Glück und Unschuld kommen vor. Mädchen, Fußball, Filme. Die Familie wird als selbstverständlich angesehen. Jeder kennt jeden. Und wenn einem in dieser Atmosphäre der Boden buchstäblich unter den Füßen weggezogen wird …
Sind die Erlebnisse des Protagonisten Buddy also kein hundertprozentiges Abbild ihrer Kindheit? Fünfzig Jahre später versuche ich mit den Augen des neunjährigen Buddy auch dessen Unsicherheit zu verstehen. Ich weiß natürlich, was ich selbst in Wirklichkeit durchgemacht habe. In meinem Film geht es aber darum, was die Figuren erleben, und zwar in einer Art und Weise, dass sich andere Menschen heute damit identifizieren können.
Warum haben Sie »Belfast« in Schwarzweiß gedreht? Für mich gibt es das kuriose Paradoxon, dass ein Film so rauer, authentischer und zeitgenössischer aussieht — obwohl wir die Welt in Farbe sehen. Schwarzweiß hat einen poetischen Effekt. Die Fotografien von Henri Cartier-Bresson waren eine große Inspiration. 2013 sah ich den wundervollen polnischen Film »Ida« von Pawel Pawlikowski, ein sublimes Meisterwerk. Die Komposition jedes einzelnen Frames war für mich, neben der packenden Geschichte, eine visuell erhebende Erfahrung.
Allerdings zeigen Sie die Stadt Belfast am Anfang und am Ende des Films in Farbe… Ich wollte auf etwas hinweisen. »Belfast« zeigt eine große, lebendige, vielseitige Stadt mit herausragenden, alten Gebäuden und neuen Dingen. Tradition, Industrie, Menschen, politische Hintergründe — alles kommt zusammen. Die Hafenkräne sind noch immer da, auch die großen Schatten, die sie werfen. Wir sind in guten und schlechten Zeiten da. In Zeiten, die wir vergessen wollen. Und in Zeiten, an denen wir festhalten wollen. Die Idee des angehenden Lichts bei diesen Szenen ist klar: »Dunkelheit, bleib weg!« Die Riesenkräne und ihre Schatten existieren weiter, aber das Licht flackert. Und natürlich flackert es, weil der Frieden in Belfast fragil ist. Man muss ihn jeden Tag beschützen.
Der Film beginnt mit einem Flug über die Stadt. Eine Referenz an »Ausgestoßen« von Carol Reed, in dem es um die ältere IRA geht? Ja, ich habe »Ausgestoßen« bei meinen Recherchen geschaut. Ein großer, prototypischer Film noir. Er beinhaltet fantastische Sachen — und man kann ihn fast schon als großartig bezeichnen. Den großartigen Film, den Reed dann tatsächlich noch machte, ist meiner bescheidenen Meinung nach »Der dritte Mann«.
Warum spielen Western eine so wichtige Rolle in »Belfast«? Western liefen damals andauernd im Kino oder im Fernsehen. Und die Dialoge im Kino sind sehr wichtig für das Verständnis von »Belfast«. Zum Beispiel die Szene aus »Der Mann, der Liberty Valance erschoss«, in der James Stewart sagt: »Everybody in this country kill crazy!« Eine große Filmpersönlichkeit, die für uns die damalige Situation in Belfast in Worte fasste.
Wie haben Sie die Musik des Films konzipiert — diese Mischung aus Jazz, Country, Irish Folk? Durch das Radio war auch Musik sehr präsent, und es wurde jede Gelegenheit wahrgenommen, selbst Musik zu machen. Auf der Mundharmonika, mit der Ziehharmonika, wie auch immer. Wichtig ist die Musik von Van Morrison. 1967 kam sein phänomenales Album »Astral Weeks« heraus, das zu einer weltweiten Sensation wurde. Es gab darauf Belfast-Songs und moderne psychedelische Charakter-Songs wie »Madame George« — unbeschreiblich. Morrison charakterisierte sich selbst als »corner boy«, also als eines jener Kinder, die auf der Straße Musik machten. Sein Vater hatte diese riesengroße Plattensammlung US-amerikanischer Musik, die Van sehr beeinflusste. So wurde er gewissermaßen zum Zentrum des Films.
Weshalb gibt es so viele Van Morrison-Songs im Soundtrack? Seine Musik drückt die Essenz des Films musikalisch sehr gut aus. Er kennt ja auch die geschilderte Situation aus eigener Erfahrung. Belfast zu verlassen, um die Welt zu bereisen. Das war damals sehr ungewöhnlich, und er ist als Künstler sehr getrieben, lebt für die Musik, bis in die Fingerspitzen. Seine Beziehung zu Belfast und seine Songs waren für mich ein Schlüssel. Stücke wie »Bright Side of the Road« hörten sich plötzlich so an, als ob er sie extra für »Belfast« geschrieben hätte. Während ich am Drehbuch arbeitete, hörte ich passend zu den jeweiligen Szenen die Lieder. Wir zeigten Van Morrison den Rohschnitt, er war sehr glücklich mit der Auswahl und machte weitere Vorschläge. Im ersten Cut hatten wir 23 Morrison-Songs! Das wäre ein bisschen zu viel gewesen.
GB 2021, R: Kenneth Branagh, D: Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Ciarán Hinds, 99 Min., Start: 24.2.
Kenneth Branagh
Wurde 1960 in Belfast geboren, als Schauspieler kennt man ihn aus »Harry Potter und die Kammer des Schreckens« oder Christopher Nolans »Tenet«. Als Regisseur ist er bekannt für Shakespeare-Adaptionen wie »Viel Lärm um nichts« und »Hamlet«, in seinem fiktiven Film über Shakespeares Lebensabend, »All is true« spielte er den Dichter 2018 selbst. Erst kürzlich startete Branaghs »Tod auf dem Nil«-Remake nach Agatha Christie in den Kinos.