»Über einen abgrundtiefen Erdspalt«
Es muss eine bizarre Begegnung gewesen sein, am 30. Oktober 1930 im Gebäude des Berliner Rundfunks. Auf Einladung von Arnold Bronnen, damals Dramaturg der »Berliner Funkstunde«, trafen sich Erwin Piscator, revolutionärer Theatererneuerer, und NS-Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels zum Vorgespräch. Eine Rundfunk-Sendung sollte stattfinden, in der die beiden Antipoden über die Frage diskutieren, wie national oder international die Kunst auszurichten sei. Widerwillig stimmte Piscator zu, der bereits im Kreuzfeuer der Nationalsozialisten stand. Vielleicht weil er eine Möglichkeit darin sah, seine Auffassungen einer breiteren Öffentlichkeit darzulegen.
Das auf 15 Minuten anberaumte Treffen dauerte am Ende Stunden. Es ging um Schiller und Goethe, um Mozarts Musik. So jedenfalls entnimmt man es einem angeblichen Protokoll, das Goebbels verfasste. Piscator selbst beschreibt die Begegnung anders: »Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte, aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren.« Trotz seines Unbehagens ließ sich Piscator auf eine Diskussion ein. Goebbels, dessen Weltbild längst gegen jede andere Wirklichkeit resistent war, notierte hingegen später in seinem Tagebuch: »Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche. Es war sehr amüsant und die ganze Bronzerie des Rundfunks hat gespannt zugelauscht.«
Seine Naivität erkannte Piscator erst, als ihm Goebbels Protokoll vorgelegt wurde: »Er hatte alle meine grundsätzlichen Argumente sich selbst zu eigen gemacht, so als ob er sie erfunden und zugleich widerlegt hätte.« Goebbels hatte den großen Piscator zu seiner Marionette gemacht, die geplante Rundfunk-Sendung kam daraufhin nie zustande. Erst im Frühjahr 1935 kreuzten sich ihre Wege noch einmal, als Piscator in Moskau die Mitteilung erhielt, Goebbels bitte ihn zurückzukommen. »Ich käme gerne zurück«, ließ Piscator ausrichten, »und zwar sofort — wenn er nicht mehr da wäre.«