»Stotter-Start ins Berufsleben«
Als im März 2020 die Schulen in ganz Deutschland pandemiebedingt zumachten, machte sich Ratlosigkeit breit. Digitaler Unterricht? Eine gute Idee. Doch an den Schulen und auch bei den Kindern und Jugendlichen zuhause fehlte es häufig an der notwendigen Grundausstattung, an Laptops, Tablets, einer stabilen Internetverbindung. Eine »Vier plus« hatten Schulleitungen ihren Schulen selbst bescheinigt, als der WDR sie im Oktober 2020 zur digitalen Ausstattung und ihrer Zufriedenheit mit dem Distanzlernen befragte.
Die sozialen Folgen und der Unterrichtsausfall machen sich bemerkbar: Allein in NRW verließen im Jahr 2020 9.709 Jugendliche die Schule ohne einen Abschluss gemacht zu haben. 30.164 Schüler*innen wiederholten landesweit im vergangenen Schuljahr eine Klasse. Diese Zahlen gab das NRW-Schulministerium bekannt — und bestätigte damit die Sorgen, die Jugendämter schon seit Pandemiebeginn äußerten.
Die Zahl der Schulabbrecher*innen werde enorm steigen, warnte bereits im April 2021 die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Mit Sorge blickte man dort auf die Jugendlichen, die in den letzten Monaten ab der 7. Klasse einfach abgetaucht seien. Das Problem in der Berichterstattung war aber ein anderes: In den Berechnungen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft veröffentlichte, hatte sich ein statistischer Fehler eingeschlichen. Die tatsächliche Zahl lag deutlich niedriger — und plötzlich sah die Lage dann doch nicht mehr so schlimm aus. Oder etwa doch?
Eine 2021 unter allen Jugendämtern in Deutschland durchgeführte Status-Umfrage zur Situation von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise hat ergeben, dass die Folgen der Pandemie in der Bildung »längst zu einem Mittelschicht-Problem« geworden seien. »Praktikums- und Ausbildungsplätze sind in der Corona-Pandemie weggefallen. Für viele wird es ohnehin ein ›Stotter-Start‹ ins Berufsleben«, sagt Birgit Zeller, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Sie befürchtet, dass viele Jugendliche der »Corona-Generation« es deutlich schwerer haben beim Fußfassen im Berufsleben. Fehlt es künftig an der notwendigen Unterstützung durch psychosoziale Dienste und Beratung: »Dann reichen wir viele eins zu eins in Hartz IV durch«, sagt Birgit Zeller.
Die 2021 durchgeführte Umfrage unter den Jugendämtern kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass insbesondere Kinder zwischen sechs und 13 Jahren besonders stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind — aber auch Alleinerziehende und psychisch erkrankte Elternteile sowie Familien in prekären Lebenslagen. »Insgesamt geht es hier um rund vier Millionen Kinder und Jugendliche, die jetzt, aber vor allem auch nach der Pandemie erhebliche Unterstützung durch die Jugendämter brauchen«, sagt Heinz Müller vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism), das die Umfrage unter den Jugendämtern durchgeführt hat.
Was also ist zu tun? Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft, glaubt, dass keiner die persönliche Entwicklung in zwei Kindheitsjahren, die verloren gegangen sind, nachholen kann. »Aber es muss künftig eine stärkere Kinder- und Jugendhilfe geben, um die Pandemiefolgen für junge Menschen wenigstens ein Stück weit aufzufangen: von der Nachhilfe über eine wesentlich intensivere Schulsozialarbeit bis zu zusätzlichen Freizeitangeboten von Vereinen.« Und er nennt auch konkrete Zahlen: 5,6 Milliarden Euro seien laut der Bundesarbeitsgemeinschaft der Jugendämter bis 2027 erforderlich — für einen »Post-Corona-Fonds« für Kinder und Jugendliche. In NRW hat die Landesregierung im Juni 2021 das Projekt »Ankommen und Aufholen« auf den Weg gebracht. 430 Millionen Euro sind im Etat für 2021 und 2022 vorgesehen — zum »Abbau von Lernrückständen«. Finanziert werden sollen damit Förderangebote für Schüler*innen, zusätzliches Personal und Kooperationen mit Partnern außerhalb der Schule.