Helfen, Verzweifeln, Weitermachen

Wie der Ukraine-Krieg auch in Köln angekommen ist

 

»Jetzt kommen sie und erschießen uns«

Was Ukrainerinnen auf der Flucht erlebt haben — und was die Menschen in Köln tun, um ihnen zu helfen

Alexandra Denysenko kam bereits vor zwanzig Jahren nach Köln, doch zu ihren Schulfreundinnen aus Odessa hat sie immer Kontakt gehalten. Heute, an einem Sonntag Mitte März, treffen sich alle auf einem Spielplatz in Seeberg wieder. Es ist ein tragisches Wiedersehen. Natascha, Olessa und Yulia sind mit ihren Kindern vor dem Krieg geflohen, zu Alexandra Denysenko nach Köln. Zwei ­weitere Familien sollen in den nächsten Tagen folgen.

Heute, auf dem Spielplatz in Köln, scheint Alexandra Denysenko noch nicht richtig zu begreifen, was in den letzten Tagen geschehen ist. Sie hat drei kleine Kinder, arbeitet Vollzeit und koordiniert in jeder freien Minute die Hilfe für die Kriegsflüchtlinge. Sie arbeitet auch mit dem Blau-Gelben Kreuz zusammen, dem deutsch-ukrainischen Verein aus Köln, der Spenden sammelt und Flüchtlinge unterstützt. Denysenko hat ihre Freundinnen vorerst alle in Refrath untergebracht, wo ihr Mann als Musiklehrer arbeitet. Familien seiner Schüler haben sie aufgenommen.

Natascha und Olessa erzählen, wie sie zu siebt im Auto nach Köln fuhren. Sie flohen früh genug, so dass auch Nataschas Mann Andrej mitkommen konnte. Yulia, die mit ihrer fünfjährigen Tochter im Zug floh, musste ihren Mann in Odessa zurücklassen. »Dort versteckt er sich jetzt, damit er nicht kämpfen muss«, sagt Yulia. »Er ist Restaurantmanager. Woher soll er wissen, wie man kämpft? Er will das nicht, er hat Angst.« Vor ihrer 63 Stunden währenden Flucht verbrachten Yulia und ihre Familie jede Nacht im Keller. Seit sie in Deutschland seien, schliefen ihre Kinder schlecht, weinten viel, erzählen alle. Sie vermissen den Vater, die Großeltern, alle, die nicht mitkommen konnten oder wollten.

Es ist ein sonniger Tag, doch plötzlich ist in der Ferne ein Donnern zu hören, und die Frauen zucken zusammen. »Ist das keine Bombe, nein?«, fragt sogar Alexandra Denysenko erschrocken, die ja gar nicht im Krieg war, und entschuldigt sich gleich: »Ich bin schon ganz durcheinander.« Die Frauen erzählen, dass sie viel Hilfe bekommen: Ein Kind hat bereits einen Platz im Kindergarten, am folgenden Tag beginnen alle Erwachsenen mit einem Deutschkurs, den Ehrenamtliche geben. Sie alle wollen nun schnell eine eigene Wohnung finden, Geld verdienen, selbständig sein. Sie möchten in Refrath bleiben, weil sie die Ruhe dort mögen. Sie erzählen das, doch überzeugend klingt es nicht. »Sie wollten Odessa nie ­verlassen«, sagt Alexandra Denysenko, ihre Kölner Freundin. »Es ist alles furchtbar.«


Mein Mann versteckt sich jetzt, damit er nicht kämpfen muss. Er ist Restaurantmanager. Woher soll er wissen, wie man kämpft?
Yulia


Auch der 14-jährigen Elena und ihrer Großmutter ­Iryna ist die Flucht nach Köln gelungen. Deren Ex-Schwiegertochter Olga Shtefan war bereits vor vier Jahren wegen des Berufs nach Köln gezogen und besorgte den beiden ein Zimmer in Merheim. »Alles was meins ist, ist auch eures, hat die Frau gesagt, bei der wir wohnen«, erzählt die 61-jährige Iryna. Die Frühlingssonne strahlt ins Zimmer. Mit der einen Hand halten sich Elena und Iryna an den Händen, in der anderen liegen ihre Handys. Immer wieder schauen sie, ob eine Nachricht gekommen ist. Elenas Mutter ist in Kiew geblieben, um den schwerkranken Vater zu pflegen. »Sie lässt ihn nicht alleine. Egal, was kommt«, sagt Elena. Sie trägt Jeans, einen fliederfarbenen Kapuzenpulli und Sneakers, ihre dunkelbraunen Augen blinzeln. »Wir haben solche Angst um sie. Aber Elena ist unglaublich tapfer«, sagt Iryna, deren Sohn ebenfalls noch in Kiew ist. Dort besuchte Elena die achte Klasse eines Gymnasiums, gehörte zu den Klassenbesten und galt als Tennistalent, gewann mehrere Meisterschaften. Ihre Großmutter Iryna war Professorin für Theoretische Mechanik an der Kiewer Universität. »Jetzt sind wir in Sicherheit, stehen aber vor dem Nichts«, sagt sie.

Iryna erzählt, wie sie die ersten drei Tage nach Kriegsbeginn zuhause verbrachten. Sie saßen im Badezimmer auf dem Boden, die Spiegel hatten sie abgehängt, die Fenster mit Klebeband abgeklebt und von innen mit Büchern zugemauert. »Das sollte uns vor Splittern schützen, wenn eine Bombe oder Rakete auf das Haus fällt«, erzählt Iryna. Über ihnen donnerten russische Kampfjets, sie hörten Einschläge, Warnsirenen, Schüsse, Schreie.

Als die Angst zu groß wurde, suchten sie Schutz in ­einem Bunker nahe der Kiewer Universität, wo sie zwischen weinenden Kindern saßen. »Wir verfolgten von dort die zweite Verhandlungsrunde, zunächst voller Hoffnung. Doch die Bombardierungen gingen gnadenlos weiter. Da wurde mir klar: Putin wird nicht aufhören. Es gibt keine Zukunft für uns. Wenn ich Elena retten will, müssen wir fliehen«, erzählt Iryna. Mit nur einem Tagesrucksack, Pässen und Dokumenten schlugen sie sich zum völlig überfüllten Kiewer Hauptbahnhof durch, passierten unzählige Militärposten. »Fast alle Menschen auf den Straßen von Kiew tragen jetzt Waffen. Es herrschen Angst und Misstrauen gegenüber jedem«, sagt Iryna.

Stundenlang standen sie in der Warteschlange am Hauptbahnhof, als kurz vor Abfahrt der Zug auf ein anderes Gleis verlegt wurde. »Es brach Panik aus. Wir quetschten uns unter einem stehenden Zug durch. Ich hatte solche Angst, dass er losfährt. Wären wir außen herumgegangen, hätten wir es nicht geschafft«, sagt Iryna. Sie wirkt gefasst, doch dann muss sie doch weinen. Elena nimmt sie in den Arm, legt das Handy aber nicht aus der Hand. Die Zugfahrt nach Lviv dauerte dreimal so lang wie üblich, immer wieder passierte der Zug gefährliche Strecken und fuhr im Schritttempo weiter. Dann sei das Licht ausgegangen, auch die Handys mussten ausgestellt werden. »Einmal stoppte der Zug plötzlich mitten auf dem Feld. Es war tiefschwarze Nacht und wir dachten alle: Jetzt kommen sie und erschießen uns.«

Iryna gegenüber sitzen Olga Shtefan und deren neuer Lebensgefährte Manuel Wegner, sie haben drei Kinder mit in die Beziehung gebracht. Bis vor kurzem stapelten sich in der Dreizimmerwohnung in Merheim Kartons mit Milchpulver, Babywindeln, Schlafsäcken, Matratzen, Powerbanks bis unter die Decke, jetzt sind die Kisten unterwegs in die Ukraine. Das Telefon klingelt, Olga Shtefans Cousine ist dran. Sie ist gerade mit ihrer kleinen Tochter in Frankfurt angekommen und fragt, wie es nun weitergehe. »Komm erst mal zu uns«, sagt Olga. In den nächsten Tagen kommen weitere Verwandte nach Köln, die sie bei der Suche nach Unterkünften und Behördengängen unterstützt. »Eigentlich habe ich mir das anders vorgestellt. Wir sind ja frisch verliebt und wollen bald heiraten«, sagt Olga, schaut zu Manuel und lacht. Alle stimmen wie erlöst ein. »Jetzt bin ich in der Flüchtlingshilfe aktiv, da müssen unsere Zukunftspläne noch warten.«


Jeden Tag kommen mehr Menschen in Köln an, schon zwei Wochen nach Beginn des Krieges sind alle Reserven der Stadt, etwa 1.500 Plätze, belegt

Das Netzwerk an Verbänden, Kirchengemeinden, Organisationen, Unternehmen oder Privatleuten, die wie Olga Shtefan oder Alexandra Denysenko Hilfe leisten, ist überwältigend. Auch der Runde Tisch für Flüchtlings­fragen traf sich am Tag nach dem Angriff auf die Ukraine, der Termin war lange anberaumt, es sollten neue Leitlinien diskutiert werden, wie Flüchtlinge in Köln untergebracht werden sollen. Doch nun bestimmt der Krieg die Agenda. »Es werden viele Menschen kommen, und sie werden in den nächsten Tagen kommen«, sagt Peter ­Krücker von der Caritas. Andere äußern sich abwartend, vermuten, dass die Situation mit 2015 nicht vergleichbar sei, als Hunderttausende Flüchtlinge über die Balkanroute kamen. Josef Ludwig, Leiter des Wohnungsamts, kündigt dennoch an, alle städtischen Reserveunterkünfte bereit zu machen und schon vorsorglich Personal einzustellen, das die Menschen in den Unterkünften betreuen soll. Eine Arbeitsgruppe wird gegründet und die Sitzung mit dem Gefühl beendet, vorausschauend gehandelt und vorgesorgt zu haben.
Doch dann wird Köln von den Ereignissen überrannt. Jeden Tag kommen allein am Hauptbahnhof bis zu 600 Menschen in Köln an, schon zwei Wochen nach Beginn des Krieges sind alle Reserven der Stadt, etwa 1.500 Plätze, belegt. Auch die Notunterkunft in der Messe für 1.100 Menschen, die Mitte März eingerichtet wird, ist nach wenigen Tagen voll. Das Land NRW stellt mehr als 5.000 Plätze in sieben Erstaufnahmeeinrichtungen zur Verfügung, darunter eine in Bonn und eine in Neuss. Wer bislang in den Einrichtungen wohnt, muss weichen und wird anderswo untergebracht. Doch schon jetzt ist abzusehen, dass auch diese Plätze bei weitem nicht reichen. 

Dass wie in den Jahren 2015 und 2016 wieder Menschen in Turnhallen schlafen müssen, will die Stadt Köln unbedingt vermeiden. Das sei bei allen Zuständigen »deutlich zu spüren«, sagt Claus-Ulrich Prölß, Sprecher des Kölner Flüchtlingsrats. »Es wird unbürokratisch geholfen und Tag und Nacht untergebracht.« Am Breslauer Platz haben Freiwillige eine Anlaufstelle eingerichtet, die von der Stadt später mit Containern und Zelten zu einem Zentrum ausgebaut wurde. Dort können die Flüchtlinge ein paar Stunden zur Ruhe kommen, sie werden beraten und in Unterkünfte gebracht. Der Andrang ist riesig, die Freiwilligen arbeiten bis zur Erschöpfung.


Noch ist nicht ab­­zusehen, wie viele Geflüchtete in Köln ankommen werden — man weiß ja nicht einmal, wie viele schon da sind

Die Ausländerbehörde hingegen gab kein gutes Bild ab, als an einem Freitag Mitte März Hunderte Flüchtlinge nach Stunden des Wartens wieder weggeschickt wurden, weil alle Termine vergeben waren. Die Behörden sind damit überfordert, jeden Tag Hunderte Menschen neu zu registrieren. Das Land will nun »mobile Gruppen« zur Unterstützung schicken, doch wann diese in Köln ein­treffen, ist unbekannt.

Erstmals hat die EU die »Massenzustrom-Richtlinie« in Kraft gesetzt, so dass Geflüchteten aus der Ukraine ohne Asylverfahren ein Schutz für bis zu drei Jahre gewährt werden kann, außerdem erhalten sie eine Arbeitserlaubnis und Zugang zu Sozialleistungen und medizinischer Versorgung. Noch ist kaum abzusehen, wie viele Geflüchtete in Köln ankommen werden — man weiß ja nicht einmal, wie viele schon da sind. In den ersten 90 Tagen müssen sich Ukrainerinnen und Ukrainer nicht registrieren, sofern sie im Besitz eines gültigen Reisepasses sind. »Viele sind vorüber­gehend bei Bekannten oder privaten Helfern untergebracht«, so Prölß. Spätestens, wenn sie dort nicht mehr bleiben können, muss die Stadt auch sie unterbringen — im Fall von Berlin schätzt die dortige Sozialsenatorin ­Katja Kipping, dass etwa doppelt so viele Menschen privat untergebracht sind wie in den städtischen Unterkünften leben.

Die Hilfsbereitschaft sei enorm, sagt Prölß. Ohne die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die Verbände und Organisationen, die die Stadtverwaltung derzeit entlasten, wäre die Situation weitaus schlimmer. Doch wie schon 2015 müsse man sich auch heute vor unseriösen Angeboten in Acht nehmen: Menschen etwa, die »eine Ukrainerin« aufnehmen wollen, in der Erwartung, dass diese die alten Eltern pflege. Auch bestehe die Gefahr sexueller Übergriffe. Und Prölß sieht noch eine Parallele zu 2015: »Damals wollten viele nur »den Syrern« helfen. Heute erreichen uns Hilfsangebote nur für »echte« Ukrainer.« Um schwarze Studenten aus Kiew, die ebenso vor dem Krieg fliehen mussten, sollen sich andere kümmern.

Und nicht alle städtischen Unterkünfte sind für Geflüchtete geeignet, von denen mindestens die Hälfte Kinder sind. Sie schlafen teils in der Messehalle oder in Leichtbauhallen, die in Gewerbegebieten stehen und nur wenig mehr Privatsphäre bieten als Turnhallen. Vor einem Jahr hatte der Rat beschlossen, alle Sammelunterkünfte in der Stadt aufzulösen, um alle Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen (vgl. Stadtrevue 03/2022). Doch daran ist in den nächsten Jahren kaum zu denken. Die Stadt muss schnellstmöglich Wohnraum schaffen — und Kita- und Schulplätze für die vielen, teils traumatisierten Kinder. An Schul- und Kitaplätzen mangelt es in Köln jedoch ebenso sehr wie an Wohnungen.

Anja Albert, Anne Meyer

 

 

»Es geht um die europäischen Werte«

Die Jazz-Sängerin Tamara Lukasheva sammelt Spenden für Musiker in der Ukraine

Seit 2010 ist für Tamara Lukasheva, 1988 in Odessa am Schwarzen Meer geboren, Köln der Arbeits- und Lebensmittelpunkt. Gleich nach ihrer Ankunft hat sie nicht nur ihr Gesangsstudium an der Jazz-Abteilung der Hochschule für Musik und Tanz begonnen, sondern auch ihr Quartett gegründet, mit dem sie 2016 ihr Debütalbum »Patchwork of Time« veröffentlichte hat. Mittlerweile ist sie im Exzellenzförderprogramm »NICA Artist Development« des Landes Nordrhein-Westfalen, Stipendiatin des »Horst und Gretl Will Stipendiums Jazz/Improvisierte Musik« der Stadt Köln und Gewinnerin des WDR-Jazz-Preises in der Kategorie »Komposition«.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar war Lukasheva klar, dass sie ein Solidaritätskonzert auf die Beine stellen will, um Spenden für Musiker in der Ukraine zu sammeln. Sie holte den Stadtgarten als Spielstätte und die Jazz-Redaktion des Westdeutschen Rundfunks mit ins Boot und bat befreundete Musiker, sie bei ihrem Vorhaben zu begleiten — etwa den Trompeter Matthias Schriefl, den Schlagzeuger Dominik Mahnig oder ihre Landsfrau, die Sängerin Mariana Sadovska. Alle setzten sich dafür ein, dass Lukashevas Ukraine-Konzert »Freiheit und Frieden« am 1. März ein Erfolg wird — gut 20.000 Euro sind dabei gespendet worden.


Frau Lukasheva, Ihre Familie lebt in Odessa. Haben Sie Kontakt zu Ihren Angehörigen? Wie ist die Situation dort?

Odessa ist noch nicht so sehr vom Krieg betroffen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die letzten Tage kam vom Meer her ein starker Sturm auf. Und im Norden verteidigt sich die Ukraine aufopferungsvoll gegen die Übermacht der russischen Streitkräfte, sodass diese noch nicht bis Odessa gekommen sind. Momentan ist es noch vergleichsweise ruhig in der Stadt. Die Situation kann sich aber jederzeit ändern und es für die Menschen in Odessa schwieriger machen.

Sie leben in Köln, während in Ihrem Heimatland Krieg herrscht. Wären Sie nicht lieber in der Ukraine, um das Land mit zu verteidigen?

In den letzten Tagen habe ich tatsächlich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich in die Ukraine ginge, um meine Heimat zu verteidigen. Aber so, wie ich in Deutschland vernetzt bin, die vielen Möglichkeiten, die ich hier habe — dadurch kann ich viel wirksamer agieren als in der Ukraine. Ich nehme zum Beispiel heute noch zwei geflüchtete Frauen bei mir auf, zudem kümmere ich mich um geflüchtete Familien. Hier in Deutschland habe ich wirklich sehr viele Möglichkeiten, wie ich der Ukraine und den Menschen helfen kann. Allein das Solidaritätskonzert, das ich organisiert habe, oder das Geld, das ich Musikern in der Ukraine überwiesen habe. All das hätte ich so nicht leisten können, wenn ich jetzt in der Ukraine wäre.

Mir ist bewusst, dass es beim ­Konzert Musiker gab, die ­Probleme damit hatten, wie pathetisch wir die ukrainische Hymne gespielt haben. Aber erst als alle standen, war es ein Zeichen echter Solidarität


Der Krieg hat auch ein starkes Gemeinschaftsgefühl unter Ukrainern ausgelöst.

Ja, in gewisser Weise ist dieser Krieg tatsächlich identitätsstiftend für uns Ukrainer geworden. Wir hören den Feind, der ständig behauptet, uns retten zu wollen — aber Raketen auf Zivilisten schießt und Kinder und schwangere Frauen tötet. Die Ukrainer waren noch nie ein homogenes Volk, jeder hat bislang sein eigenes Süppchen gekocht. Seit Kriegsbeginn sind wir Ukrainer aber so einig wie noch nie in der Geschichte unseres Landes. Wir mussten wohl erst dieses Gemeinschaftsgefühl entwickeln, um uns als Nation begreifen zu können. Lange Zeit haben wir nicht glauben wollen, dass Putin so weit gehen und in die Ukraine einmarschieren würde. Wie viele meiner Landsleute dachte auch ich, dass er sich »nur« die Donbas-Region im Osten einverleiben will, um einen Puffer zu haben, wenn die Ukraine irgendwann Mitglied der Nato werden sollte. Was für einem fatalen Irrtum sind wir aufgesessen!


Musik als Waffe gegen den Aggressor Russland?

Nein! Im Prinzip geht es in diesem Krieg um den Kampf des Guten, das die Menschen zusammenbringt, gegen das Böse, das Menschen trennt. Kunst und Musik verkörpern für mich alle Ideale des Guten: Gemeinschaftssinn, Liebe, Freude... Krieg aber bringt nur Zerstörung und Leid mit sich. Ich tue mich überhaupt schwer damit, Waffen und Musik zusammen zu denken. Egal aus welcher Perspektive man es sieht, Waffen töten oder verletzen Menschen. Wir Musiker sorgen aber dafür, dass wir in unseren Konzerten Menschen friedlich zusammenbringen. Deshalb kann Musik niemals eine Waffe sein, so wie wir Musiker auch niemals Soldaten sind. Weil ein Soldat Befehlsempfänger ist und funktionieren muss. Wir Musiker haben aber unseren eigenen Kopf und entscheiden nach unseren Kriterien über unser Leben.

Welche Bedeutung hat das Solidaritätskonzert im Stadtgarten für Sie?

Im Stadtgarten haben wir die ukrainische Nationalhymne am Anfang und Ende des Konzerts gespielt. Am Anfang sind nur vier Menschen aufgestanden, das waren  Ukrainer. Klar, wenn die Hymne gespielt wird, stehen wir auf, singen sie mit und halten uns die Hand ans Herz. Als wir aber die Nationalhymne am Schluss noch einmal gespielt haben, sind plötzlich alle im Stadtgarten gestanden. Ich weiß, wie kontrovers in Deutschland Nationalstolz diskutiert wird. Mir ist auch bewusst, dass es beim Konzert Musiker gab, die Probleme hatten, wie pathetisch, wie kraftvoll wir die ukrainische Hymne gespielt haben. Aber erst als alle standen, war es ein Zeichen echter Solidarität. Mehr noch: Damit haben wir gezeigt, wofür in der Ukraine gekämpft wird: für die europäischen Werte, auf die wir uns alle eingeschworen haben: Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte. In der Ukraine sterben Menschen im Kampf für diese Werte. Als alle im Stadtgarten aufgestanden sind, ist das jedem im Raum klar geworden. 

Martin Laurentius

 

 

»Wir haben alle die gleichen Lieder gesungen«

In Chorweiler haben viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion eine neue Heimat gefunden. Doch seit der Krieg ausgebrochen ist, tun sich Gräben auf

Vieles ist in Chorweiler besser geworden, seit vor sieben Jahren die städtische Wohnungsgesellschaft GAG 1.200 heruntergekommene Wohnungen kaufte und sanierte. Es gibt jetzt ein Quartierszentrum, einen »Mietertreff« oder ein Gartenprojekt für Kinder und Jugendliche. Auch der Pariser Platz im Zentrum ist neu gemacht. An den langen Holzbänken gibt es einen großen »Tisch der Nationen«, hier treffen wir Alexander Litzenberger. Er wurde im heutigen Kasachstan geboren, wuchs im sibirischen Omsk auf, bis er 1996 mit seiner Familie als Spätaussiedler nach Köln kam. Heute betreibt er das Onlineportal »Chorweiler Panorama«, auf dem er über den Bezirk berichtet: eine Demo gegen den Krieg in der Ukraine, ein Spendenaufruf der Synagogengemeinde für die Kriegsopfer. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, erklärt er sich mit der Ukraine solidarisch und verurteilt die »autoritäre, homophobe« russische Regierung. So deutlich bezögen nicht alle Russlanddeutschen Position, sagt er. »Viele leben hier, sind aber geistig drüben«. Sie übernähmen die Ansichten des russischen Propaganda-Fernsehens, das auch in Chorweiler geschaut werde. »Je älter die Menschen, desto stärker sind sie nach Russland orientiert. Das ist heute schlimmer als vor 25 Jahren.«


Wenn russische ­Kinder gezwungen werden, ihre ­Meinung zu Putin zu äußern, fehlen mir die Worte. Was können sie für den Krieg?
Roman Friedrich

Im Stadtteil Chorweiler haben gut 80 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Im gleichnamigen Bezirk leben mehr als 7.600 Aussiedler, meist aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Litzenberger zeigt auf die evangelische Kirche aus rotem Klinker. »Sie wird vor allem von Russlanddeutschen besucht.« Einige der »jüdischen Kontingentflüchtlinge«, der zweiten großen Gruppe russischsprachiger Einwohner, besuchen das Zentrum der Synagogengemeinde hinter der Kirche. Die Russlanddeutschen blieben eher für sich, sagt Litzenberger. »Sie sind oft in großen Familienverbänden nach Deutschland gekommen und eher keine Vereinsmenschen.« 

Die Hochhäuser am Pariser Platz ragen in einen strahlend blauen Himmel. Litzenberger spaziert jetzt vorbei an einem Altenheim, aus dem ein Radio schallt, die Sprecherin verkündet, dass Geflüchtete aus der Ukraine in einer Unterkunft in Worringen untergebracht worden seien, nur drei, vier Kilometer entfernt.

Anfang März warnten Polizeigewerkschaften wegen des Kriegs vor gewalttätigen Konflikten »zwischen Sympathisanten beider Gruppen« auch in Deutschland. »Ja, es gibt auch in Chorweiler Spannungen«, sagt Litzenberger. »Aber Gewalt? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er erzählt von einer Demo gegen den Angriffskrieg. Ukrainische Fahnen wehten am Pariser Platz; sonst sieht man sie kaum hier. »Da hatte ich schon die Befürchtung, dass die Demonstranten angegangen werden. Doch nichts ist passiert.«

Litzenberger ist inzwischen im osteuropäischen Supermarkt an der S-Bahn-Haltestelle Chorweiler-Nord angekommen. Es heißt, dort habe man noch vor einiger Zeit Putin-Bildchen feilgeboten, doch derartiges sieht man hier nicht mehr. Man merkt auch nichts von Lieferengpässen. Die Auswahl an Buchweizen, sauren Gurken und Krim-Sekt ist beeindruckend, die Stimmung im Laden gelöst. Ein Mann legt ein Bündel Birkenreisig aufs Band, »für die Sauna«, wie er bereitwillig erklärt. Die Filialleiterin versichert, es habe bei ihr keine Anfeindungen gegeben. »Wir sind ein internationaler Markt: russisch, polnisch, rumänisch. Hier ist alles in Ordnung.«   

Sorgen macht sich dagegen Roman Friedrich, der seit 15 Jahren Streetworker in Chorweiler ist. »Hier leben Leute aus verschiedenen Ländern größtenteils gut zusammen. Das gehört zur Chorweiler-Kultur und ist unser höchstes Gut«, sagt der 46-Jährige. Vor 26 Jahren kam Friedrich aus Russland nach Deutschland. Woher die Aussiedler stammten, habe vor dem Angriffskrieg keine große Rolle gespielt. Seit Jahren säßen Kinder mit russischer, ukrainischer, georgischer, kirgisischer, tadschikischer, baltischer oder kasachischer Herkunft in den Schulen nebeneinander. Viele haben Wurzeln in mehreren Ländern, etwa in der Ukraine und in Russland.
Auch nach Putins Angriff sei zwar ein großer Zusammenhalt in der Community zu spüren. »Die russischen Mütter leiden mit den ukrainischen und umgekehrt«, sagt Streetworker Friedrich. Mit der russisch-orthodoxen Gemeinde und Privatleuten hat er ein Netzwerk aufgebaut: Ein Bus der Kirchengemeinde brachte mehrmals Milchpulver, Medikamente, Decken und Kleidung an die polnisch-ukrainische Grenze. Mit der ukrainischen Beauftragten für Kinderrechte versucht Friedrich, Waisenkinder aus der Ukraine zu evakuieren. Ein Bus mit 80 Kindern hat es bereits bis an die Grenze geschafft.


Manchmal stehen die Leute auch vor der Tür, gerade angekommen nach Tagen der Flucht, und fragen, was sie nun tun sollen

Doch die Stimmung in Chorweiler sei aufgeheizt, sagt Friedrich. In den Schulen seien russischsprachige Kinder beleidigt oder verprügelt worden. »Wenn russische Kinder gezwungen werden, ihre Meinung zu Putin zu äußern, fehlen mir die Worte. Was können sie für den Krieg? Das ist Rassismus.« Friedrich, der auch CDU-Bezirkspolitiker ist, warnt vor einem »Stellvertreterkrieg« auf den Straßen Chorweilers und »Slawophobie« der Mehrheitsgesellschaft.

Viele äußerten ihre Meinung nicht, aus Angst, nicht mehr nach Russland einreisen zu dürfen, um ihre Familie zu sehen. Derzeit kursiere in russischen Messenger-Gruppen die Falschmeldung, dass jegliche Unterstützung des Krieges in Deutschland zu Haft führe. Die Bild-Zeitung meldete, Putin habe zweitausend Agenten nach Deutschland eingeschleust. »Viele haben Angst vor einer Hexenjagd und schweigen.« Er wisse aber, dass die Position der Menschen mit Wurzeln in Ländern der ehemaligen Sowjetunion völlig unterschiedlich sei, sagt Friedrich. »Es gibt russischstämmige Menschen, die ukrainische Kinder aufnehmen und gleichzeitig Putins Operation unterstützen. Es gibt Ukrainer, die ihre Regierung kritisieren und dennoch für ihr Land kämpfen würden. Und es gibt Russen, die aus ihrem eigenen Land flüchten, weil sie Putin-Kritiker sind.«

Friedrich sagt, als Streetworker müsse er mit allen im Dialog bleiben, auch mit solchen, die Putins Vorgehen gutheißen. Alexander Litzenberger findet dagegen, man müsse sich deutlich distanzieren. Friedrich und Litzenberger waren Freunde, inzwischen ist ihre Beziehung abgekühlt.

Als die russische Armee in die Ukraine eingefallen war, rief Ilya Rivin seine Mitarbeiter zusammen. Er leitet das Begegnungszentrum der Synagogengemeinde am ­Pariser Platz. Der blaue Bungalow bildet mit dem angrenzenden, gelb angestrichenen Familienzentrum der katholischen Gemeinde die ukrainischen Nationalfarben — ein Zufall, doch nun wirkt es wie ein Symbol. »Wir waren fassungslos, keiner hatte geglaubt, dass Putin wirklich die Ukraine überfallen würde«, sagt Rivin. Ihnen sei sofort klar gewesen, dass sehr viele Menschen fliehen würden, »und dass wir uns um sie kümmern werden«. Rivin wurde in der belarussischen Hauptstadt Minsk geboren, spricht Russisch, versteht auch Ukrainisch. Er zeigt das Büro, in dem sich Babywindeln und andere Spenden stapeln. Dann setzt er sich in den Veranstaltungssaal, in dem zweimal pro Woche auch Gottesdienste gefeiert werden. Seit Kriegsbeginn aber konzentriert sich hier ­alles auf die Flüchtlinge. Rivin und seine Mitarbeiter ­beraten sie zusammen mit der Stadt, auf Russisch und ­Ukrainisch, meist telefonisch oder per E-Mail. Manche ­stehen aber vor der Tür, gerade angekommen nach Tagen der Flucht, und fragen, was sie tun sollen. Als Rivins Handynummer in Chatgruppen von Flüchtenden bekannte wurde, klingelte sein Telefon rund um die Uhr. Verzwei­felte fragten ihn, wo Züge abführen oder wo sie Schutz­räume finden. »Ich konnte ihnen nicht helfen. Es war furchtbar«, sagt Rivin.

Während Rivin erzählt, proben nebenan ein Tenor und eine Pianistin. Die meisten Besucher des Begegnungszentrums seien »jüdische Kontingentflüchtlinge«, die seit Mitte der 90er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, erzählt Rivin, unter ihnen viele Musiker. »Sie treffen sich in unserem Club Talente und musizieren gemeinsam.« Zurzeit kämen aber viel weniger. Es wollte sich auch kaum jemand zum regelmäßig stattfindenden Erzählcafé anmelden, wo die meist betagten Besucherinnen und Besucher bei Kaffee und Tee aus ihren Leben berichten, singen oder Gedichte vortragen, Rivin musste es absagen. »Wenn eine Diskussion über den Krieg oder die russische Politik aufkommt, beenden wir sie sofort«, sagt Rivin. Er habe zu oft erlebt, dass sich Gäste darüber entzweien. Auch in seinem Zentrum gebe es Besucher, die ausschließlich russisches Fernsehen schauen und Putin unterstützen. »Manch einer hält den Krieg für nötig, weil er glaubt, die Ukraine müsse von Nazis befreit werden«, sagt Rivin. »Gleichzeitig haben sie Mitleid und spenden großzügig für unsere Hilfsaktionen.«

Der Tenor im Nebenraum setzt nach kurzer Pause wieder ein, und Rivin seufzt. »Wissen Sie, hier war es immer egal, ob Sie aus Moskau, Minsk oder Kiew kommen. Wir haben alle die gleichen Lieder gesungen, die gleichen Filme gesehen.« Nun aber beäugt man sich oder bleibt gleich zu Hause. Auch Rivins Besucher berichten davon, beleidigt zu werden, wenn sie auf der Straße Russisch sprechen. »Sie wurden als Jude diskriminiert, und nun auch als Russe.« Rivin muss jetzt weiter, er hat Besprechungen mit den städtischen Ämtern. Jeden Tag kommen mehr Flüchtlinge an. »Ihnen zu helfen, ist jetzt unsere größte Aufgabe. Aber wenn der Krieg vorbei ist, gibt es viel aufzuarbeiten.«

Anja Albert, Anne Meyer

 

 

Krieg und Freundschaft

Was bedeutet Putins Krieg für die Städtepartnerschaft zwischen Köln und Wolgograd?

Kann man eine Städtepartnerschaft mit Russland weiter pflegen, wenn die Regierung des Landes einen Angriffskrieg führt? Darüber ist ein Streit entbrannt, der OB Henriette Reker, oberste Repräsentantin der Stadt, in Bedrängnis bringt. Einerseits sollen die Beziehungen zu den Bürgern der Partnerstadt erhalten werden, andererseits aber die Kontakte zu den offiziellen Stellen gekappt werden. So teilte es Reker am 4. März dem Rat der Stadt per E-Mail in zwei knappen Sätzen mit.

Die Empörung folgte prompt. Weniger, weil es in­haltlichen Dissens gab, sondern vielmehr, weil die ­weitreichende Entscheidung ohne Rücksprache getroffen wurde — weder wurde der Rat eingebunden noch wurden offenbar der mit der Partnerschaft betraute ­Verein Wolgograd e.V. und die Dachorganisation für die Kölner Städtepartnerschaften, Cologne Alliance, ­unmittelbar ­informiert.

Ausgerechnet aber der Wolgograd e.V. hatte womöglich Rekers überhastete Entscheidung provoziert. Der Verein hatte in einer ersten Stellungnahme zum Krieg kundgetan:  »Wir haben in der Vergangenheit die politische Führung unseres Landes aufgefordert, für die andere Seite Verständnis zu haben, auch wenn deren Handlungen damit nicht gebilligt werden müssen. Diese Aufforderung halten wir vor dem Hintergrund des Vorrückens der Nato nach Osten nach wie vor für berechtigt.« Sieben Stunden später, habe man den Eintrag wieder gelöscht, sagt Eva Aras, Vorsitzende des Vereins. Dass sich die OB noch zwei Tage später darauf bezogen hat, irritiere sie. Doch auch heute noch sagt Aras: »Inhaltlich halte ich diese Sätze immer noch für richtig, aber momentan nicht für hilfreich. Das ist aber nur meine persönliche Meinung, da kann ich nicht für den ganzen Vorstand sprechen.«

Die sonst kaum in der Öffentlichkeit beachtete Städtepartnerschaft ist zum Politikum geworden — und Reker steht wieder im Ruf, nicht transparent zu handeln. Das kritisiert auch Bürgermeister Ralf Heinen, seit 2014 einer der Stellvertreter Rekers. »Die Kommunikation der OB ist ein Unding«, sagt der SPD-Politiker. »Städtepartnerschaften sind auch Angelegenheit des Rates und nicht allein der Oberbürgermeisterin. Es ist eine Respektlosigkeit, so vorzugehen. Eine breite Diskussion im Rat hätte wohl auch zu einer besseren, weil differenzierteren Kommunikation geführt.« 


Wie sollen »zivil­gesellschaftliche ­Kontakte« zu einem autokratisch regierten Land aufrecht­erhalten werden, das seine Bürger kontrolliert?

Die Partnerschaft mit dem ehemaligen Stalingrad hat eine besondere Bedeutung. Es gibt sie seit 1988, und außer den üblichen Kontakten zwischen der Schüler- und Studentenschaft, Sportvereinen oder Künstlergruppen, besteht hier ein Projekt zur Unterstützung von Russinnen und Russen, die von den Nazis zu Zwangsarbeitern gemacht wurden. Auch nach Rekers Entscheidung wird es fortgesetzt, ebenso sollen alle »zivilgesellschaftlichen Kontakte« aufrechterhalten werden. Aber wie soll das gehen? Zumal in einem autokratisch regierten Land, das seine Bürger kontrolliert und missliebige wegsperrt oder foltert?

Andreas Wolter, als Bürgermeister Rekers erster Stellvertreter, wenn es darum geht, die Stadt zu repräsentieren, war mehrmals in Wolgograd. Der Grünen-Politiker begrüßt Rekers Entscheidung. Auch er betont, man wolle die zivilgesellschaftlichen Kontakte fortführen. Auf jeden Fall aber sollen die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter weiter ihre soziale und gesundheitliche Betreuung bekommen. Aber wie ist es überhaupt noch möglich, Geld nach Russland zu trans­ferieren, fragt sich Wolter.

Er hat als Bürgermeister viele Partnerstädte besucht. Er berichtet von herzlichen Kontakten zu den Bürgerinnen und Bürgern in Wolgograd, sagt aber auch, dass die offiziellen Vertreter versucht hätten, ihn zu instrumentalisieren. »Da wurde ich einmal bei einem Empfang in einen Nebenraum gebeten und fand mich in einer Veranstaltung von Putins Parteifreunden wieder, wo man mich mit einem russischen Befehlshaber der Schwarzmeerflotte aus Sewastopol zusammenführen wollte.« Ein andermal habe er bei einem Beisammensein darauf anstoßen sollen, dass Estland bald wieder zu Russland gehören würde. Und als er Kontakt zu queeren Menschen aufnahm, habe er das nur heimlich tun können, um sie nicht zu gefährden, erzählt Andreas Wolter.


Man muss sich ­ehrlicher und grundsätzlich fragen, was mit einer Städte­partnerschaft erreicht werden soll und kann
Sebastian Bartsch, Menschenrechtsstadt Köln e.V.

»Man muss sich ehrlicher und grundsätzlich fragen, was mit einer Städtepartnerschaft erreicht werden soll und kann«, sagt Sebastian Bartsch, Vorsitzender der Initiative Menschenrechtsstadt Köln. Ein Konzept zur Weiterentwicklung der Städtepartnerschaftsarbeit, mit dem der Rat die Verwaltung bereits 2016 beauftragt hatte, liegt zwar längst vor, wurde aber nicht verabschiedet. Darin sind Leitlinien und Maßnahmen festgelegt worden, vor allem, was die Wahrung von Menschenrechten in Partnerstädten betrifft. »Köln ist auf krisenhafte Situationen gar nicht vorbereitet«, sagt Bartsch. Es gebe auch noch andere Partnerschaften, etwa mit Istanbul oder Peking, die unter Gesichtspunkten der Menschenrechte problematisch sind. »Man muss ehrlich sein, was die Beweggründe für den Kontakt etwa nach Peking sind. Wenn es vor allem um wirtschaftliche Interessen geht, dann sollte man das auch ehrlich sagen.« Bartsch hofft, dass angesichts der jetzigen Erfahrungen endlich das Konzept verabschiedet werde. Die zuständige Leitung des Amtes für Internationales im Dezernat der OB war lange vakant. Mitte März ist sie neu besetzt worden.

Am 13. März gab es dann doch noch eine Pressemitteilung der Stadt zum Thema Städtepartnerschaft. Darin heißt es, OB Reker habe an den Wolgograder Bürgermeister Wladimir Marchenko appelliert, »alles ihm Mögliche zu tun und sich für ein Ende der Kriegshandlungen einzusetzen«. Eine Antwort aus Wolgograd gab es nicht.  

Anne Meyer, Bernd Wilberg