Die Hölle unter ihm, dem Himmel entgegen: Horace Andy, Foto: Michael Moodie

This must be hell

Der große Reggae-Sänger Andy Horace kommt nach Köln

Es gab und gibt immer gute Gründe, das Freedom Sounds Festival zu besuchen. Mit viel Herzblut und in enthusiastischer Eigenregie schaffen es die Veranstalter Jahr für Jahr, die Lebendigkeit von Ska und Reggae zu demonstrieren: traditionsbewusst ist ihr Programm — und neugierig auf weniger bekannte Acts. Das wird auch dieses Jahr so sein, und dennoch wird es um ein bisschen mehr gehen.

Nämlich — um diese Stimme … Eine Stimme, die gewöhnungsbedürftig hoch klingt. Mehr noch, sie klingt so, als könnte derjenige, der da singt, gar nicht anders, als wäre das seine natürliche Stimme. Wer im Falsett singt, will dadurch häufig Verletztbarkeit, gar Zerbrechlichkeit ausdrücken, man denke nur an Neil Young. Aber diese Stimme klingt überhaupt nicht zerbrechlich. Im Gegenteil, nach jeder Strophe endet der Sänger in einem, trotz der hohen Stimmlage, kräftigen Vibrato, mit dem er die Melodie mutwillig überdehnt.

Wer nicht vorgewarnt ist, drückt schon mal schnell auf »Stopp«. Zu krass! Hohe (Männer-)Stimmen sind im klassischen Reggae üblich gewesen, und ja: sie drücken Zartheit aus, ein erwachendes Selbstbewusstsein und eine Jugendlichkeit, die sich unter prekären Umständen behaupten muss. Die hohen Stimmen singen von sexueller Not und religiöser Erlösung, von Armut und Ausbeutung und dem ewigen Kampf, sie zu überwinden. Aber Horace Andy überflügelt sie alle, er schwebt über den Riddims, taumelt in eine Trance und überlässt doch nichts dem Zufall, hier singt jemand, der sich seiner künstlerischen Mittel sehr bewusst ist.

Der Funke springt schnell über. Noch im Moment der Gewöhnung wird man süchtig nach den Mantras des Horace Andy, der sich, obwohl er in den vergangenen fünfzig Jahren unzählige Singles veröffentlicht hat, auf ein recht überschaubares Repertoire an Songs konzentriert, die er wieder und wieder einsingt. Ihm geht es nicht um ein Maximum an Variation, sondern im Gegenteil: Es ist, als hätte sich Horace Andy zum Ziel gesetzt, immer wieder den gleichen Song im gleichen Stil einzusingen. Die Ekstase resultiert aus den minimalen Abweichungen, aus der stoischen Haltung, mit der Horace Andy seit den frühen 1970ern sein Ding durchzieht. Um maximalen Eindruck zu machen, muss die Differenz zwischen der Song-Versionen nicht groß sein, sie braucht bloß eine erste Verfremdung auszulösen, die Horace Andy nutzt, um in seinen Liedern ungeahnte Tiefen der Seele auszuloten.

Geboren wurde er 1951 als Horace Hinds. Für die arme Jugend in Kingston, der Hauptstadt Jamaikas, war eine »Karriere« als Sänger eine ernsthafte Option, denn das ihnen Arbeitslosigkeit, Tagelöhnerei, Auswanderung drohten, war eh klar. Warum nicht versuchen, in den Dancehalls und Bars zu reüssieren, vielleicht die afrokaribische Community in UK zu erreichen? Dann könnte man als Sänger sogar von der Musik leben. Horace kennt das aus seiner Familie, sein Cousin  Justin Hinds hatte bereits einige Rocksteady-Hits. Mit Justin ist der Familienname schon belegt, der jamaikanische Produzenten-Pate Coxsone Dodd verpasst Horace den Künstlernamen, der ihn in die Nähe eines anderes Sängers rücken soll,  Bob Andy.

Zunächst passiert wenig. Die ersten Songs, die Horace noch als Jugendlicher aufnimmt, finden buchstäblich keinen Widerhall. Das ändert sich Anfang der 1970er mit dem Hit »Skylarking«, der bis heute sein signature song geblieben ist. Jetzt gehört Horace Andy zu den Dutzenden jamaikanischen Sängern, die Single um Single raushauen, sie werden in der Regel für die Session bezahlt und nicht weiter an den Verkaufserlösen beteiligt. Aber eine Sache ist ungewöhnlich: Er ist nicht an einen Produzenten gebunden, gehört nicht zu einer Studio-Clique, jedes seiner Alben, die ab 1974 folgen, wird von einem anderen Reggae-Paten produziert. Dementsprechend auffällig sind die klanglichen Unterscheide, aber entscheidend ist stets seine Stimme: Sie macht den Unterschied, sie taucht die jeweiligen Mixing-Künste der in der Tat begnadeten und bis heute bewunderten jamaikanischen Toningenieure in ein neues Licht.


Die 70er? Nichts war damals idyllisch

Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er, als Reggae — zuvor noch Musik des Aufbruchs und der militanten schwarzen Jugendbewegung — kurz vor dem Zerfall steht und im Begriff ist, aus den Clubs zu verschwinden, wo ein härterer, hedonistischer, zynischer Sound sich durchsetzt, ist die Formel für den ultimativen Horace-Andy-Sound gefunden: Niemand versteht diese Stimme besser als Lloyd Barnes (»Bullwackie«), ein jamaikanischer Expat in New York, der aus der Perspektive von Disco, frühem HipHop und Jazz auf Reggae blickt. Er versteht es, Andys Stimme in ein flirrendes, pulsierendes, unterschwellig grollendes und bebendes Geflecht aus schwerem Bass, brachial montiertem Synthie-Gedröhne und sparsamst angedeuteten Melodien einzubetten. Horace Andy war nie ein großer Geschichtenerzähler, sondern verdichtet Gefühle und Seelenzustände, schafft eine unnachahmliche Stimmung. Zusammen mit Barnes funktioniert er seine Songs um zu Tracks, »Danchall Style«, reduziert seine Stimme zu einem Singsang, der schließlich mit dem Hall verschmilzt und dieser Welt längst enthoben ist.

Ihre Kooperation klingt bis heute visionär — und war für Horace Andy überlebenswichtig. Denn mit Everton DaSilva hatte er zuvor einen Partner gefunden, mit dem er dauerhaft zusammenarbeiten wollte. DaSilva wird aber 1979 ermordet, ein Ereignis, das Andy zutiefst trifft, ihn für lange Jahre traumatisiert. Die Bullwackie-Produktionen und ab 1991 die Zusammenarbeit mit dem britischen TripHop-Kollektiv Massive Attack halten ihn über Wasser. »This must be hell«, so lautet ein legendärer Song von ihm. Nichts war ja idyllisch in Jamaika 1975, als er diese Single veröffentlichte: schwelender Bürgerkrieg und beginnender Drogenwahn, scheiternde Sozialreformen, parallel dazu der Aufstieg des Reggae zur globalen Marke, der die Verballhornung und Zähmung dieser Kultur bereits in sich trug. Das muss die Hölle sein, in der Tat. Dieses Jahr erscheint mit »Midnight Rocker« ein Comeback-Album, wunderbar dicht produziert von Adrian Sherwood, der die Andy-Barnes-Formel von 1980 revitalisiert. »This must be hell« findet sich auch auf diesem Album wieder. Die Stimme klingt brüchiger, aber sie strebt immer noch in den Himmel.

Und um das noch aufzulösen: Horace Andy — genannt Sleepy Andy wegen seiner schweren Augenlider — spricht im Alltag ganz anders. 

Tonträger: »Midnight Rocker« erscheint am 8.4. auf On-U Sound (Rough Trade).