Offenes Netzwerk für freie Töne
Eigentlich hatte das Protokoll der Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen von Touch im Rahmen des diesjährigen Berliner CTM Festivals vorgesehen, dass die beiden Touch-Begründer Jon Wozencroft und Mike Harding selbst anwesend sind. Doch die Pandemie und familiäre Ereignisse vereitelten dies. So treffen wir uns nicht wie intendiert in der Bar des Silent Greens in Berlin, sondern in einem Zoom-Raum — wobei dies bei den beiden Labelbetreibern kaum einen Unterschied macht. Gelingt es ihnen doch, selbst in der Sterilität eines digitalen Meetings eine derart intime Stimmung auszulösen, dass man selbst nach mehr als zwei Stunden noch nicht aufhören will, sich mit ihnen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Mixed-Media-Imprints zu unterhalten.
Eines ist Wozencroft und Harding sehr wichtig: Touch ist keineswegs nur eine Plattenfirma, es ist ein offenes Netzwerk, in dem sie mit Gleichgesinnten an künstlerischen Projekten jenseits enger Genre- und Formatgrenzen arbeiten. Gleichwohl ist es natürlich so, dass ein Großteil der Touch-Fans — das Wort ist sehr bewusst gewählt — den Imprint hauptsächlich wegen der darauf veröffentlichten Musik schätzen. Musik von so namhaften Künstler:innen wie Ryuichi Sakamoto, Hildur Guðnadóttir, Jóhann Jóhannsson, Mika Vainio, Anna von Hausswolff, Philip Jeck, Richard H. Kirk, Oren Ambarchi, Sweet Exorcist, Fennesz, Biosphere, Rehberg & Bauer und Ryoji Ikeda — die Liste ließe sich mühelos noch einige Absätze länger weiterführen.
Stattdessen tauchen wir gemeinsam in die Londoner Subkultur der frühen 1980er Jahre ein. »Das war eine unglaublich dynamische Zeit«, erinnert sich Jon Wozencroft. »Um mitzumischen musste man einen eigenen Zugang finden, etwas tun, was sonst niemand tat. So kam es, dass wir uns der mixed media zuwendeten. Wir agierten an den Schnittstellen aus bewegten Bildern, Sound, Design, Schreiben und Fotografie. Es ging uns darum, eine neue hybride Kultur zu etablieren, wobei wir uns der Tradition von Dadaismus und Surrealismus verpflichtet gefühlt haben.«
Mindestens genauso wichtig wie die Musik ist für die beiden seit jeher die soziopolitische Verankerung ihrer Aktivitäten. Man versteht sich bis heute als links; in den frühen Tagen bedeutete dies eine klare Positionierung gegen Thatcherismus, Rassenkonflikte, Falkland-Krieg und die Privatisierung der staatlichen Industrien im Vereinigten Königreich — und für die alltägliche künstlerische Praxis, dass sie mit den Künstler:innen sehr intensiv über alles diskutierten und gemeinsam eigene Produktions-, Herstellungs- und Vertriebsstrukturen entwickelten. Eine Arbeitsweise, die heute gemeinhin unter Do-It-Yourself firmiert.
Im Klartext unseres Zoom-Gesprächs manifestiert sich diese Haltung zunächst darin, dass Mike und Jon dem etablierten System ein deutliches »Fuck you« entgegen murmeln — auch wenn Jon nur Sekunden später relativierend ergänzt, dass, »so sehr das Fenster auch offen war«, »das Paradigma des Musikbusiness — also mit Bands zu arbeiten und Platten zu veröffentlichen — noch immer in Kraft war.«
Es klang eben schon an — das kulturelle London der frühen 1980er Jahre war unglaublich schnell. Jeden Abend gab es dutzende Konzerte neuer Bands, Ausstellungseröffnungen und politische Gatherings. Die Community war groß — und sie wurde jeden Tag größer. Touch hatte damals zwar Büroräume, das eigentliche Büro waren aber die Straßen, Clubs und Bars von London, wo sich all die Gleichgesinnten Nacht für Nacht zusammen fanden. Das gemeinsame Ziel: Spaß haben und on the run längerfristig beständige Strukturen generieren.
Jon betont, dass es ihnen mit Touch nie darum ging »über Nacht die nächste große Sensation zu kreieren«, wie es sonst so häufig der Fall sei in der britischen Musikindustrie, wo bis heute vor allem der Nummer-1-Hit zähle. Schmunzelnd merkt er an, dass die Pointe sei, dass sie trotzdem sehr erfolgreich gearbeitet hätten und »mit unserer Arbeitsweise in den letzten 20 Jahren Künstler:innen hervorgebracht haben, die international bekannt sind.«
Von großer Bedeutung hierbei ist sicherlich die Tonalität und Bestimmtheit, mit der die beiden mit ihren Künstler:innen kommunizieren. Sie sind gleichermaßen Freunde, Berater und Motivatoren. Jon Wozencroft und Mike Harding selbst wählen die Worte sehr sorgfältig, wenn sie beschreiben, wie sie mit der Touch-Community interagieren: Worte wie »freundlicher Rat«, »Gleichgewicht zwischen der Arbeit und der Welt«, »Botschafter« und »Kurator« fallen. Die beiden heben hervor, dass sie in der nun bereits 40jährigen Historie von Touch oft Künstler:innen in ihrem Output-Drang bremsen mussten, um sie vor sich selbst zu schützen.
Rückblickend kann man attestieren, dass Jon Wozencroft und Mike Harding mit Touch ein Biotop entwickelt haben, in dem sich die Künstler:innen so sicher fühlen, dass sie loslassen können und sich auf unkontrolliertes Terrain wagen — sie also Kunst als organischen Prozess im freisten aller Sinne zu leben in der Lage sind.
Jon erinnert sich beispielsweise daran, wie sie Chris Watson, seines Zeichens Gründungsmitglied von Cabaret Voltaire, behutsam darin bestärken mussten, dass seine eigenen experimentellen Produktionen von immenser Nachhaltigkeit sind: »Er dachte nicht, dass sich jemand für seine Tonaufnahmen von wilden Tieren interessieren würde, es sei nur ein Hobby; es dauerte ganze fünf Jahre, ihn davon zu überzeugen, dass das, was er tat, die Leute wirklich inspirieren würde.«
Wobei die klassische Arbeitswelt mit ihren Strategie-Meetings, Marketing-Kampagnen und klar definierten Arbeitszeiten den beiden schon immer fremd war — was nicht heißt, dass sie nicht wie besessene Workaholics im Auftrag der Künstler:innen eine Menge wichtiger Entscheidungen zu treffen wissen. Deren Genese fand nur eben auf eine Touch-Art statt und nicht nach einem BWL-Lehrbuch oder den »Marktgesetzen«. Jon: »Wir orientierten uns nie am Verhalten anderer Plattenfirmen, was die Strukturierung unseres Outputs betrifft. Auch interessieren uns Marketingregeln nicht. Wir haben uns immer eine eigene Agenda gesetzt und einen eigenen Rhythmus erlaubt. Touch hat überlebt, weil wir es nie systematisch machen wollten.« Oder wie es Mike so treffend auszudrücken vermag: »Wir haben überlebt, weil wir uns für viele Dinge entschieden haben, die wir nicht machen wollten, das hat sich sehr bewährt. Ich habe in den 90er Jahren miterlebt, wie viele zeitgenössische Labels ihren Output verändert haben. Ich hielt das nie für eine gute Idee: Ihr seid jetzt also ein Dance-Label?! Es schien, als hätten sie die Motivation verloren und sich von dem entfernt, was in den 80er Jahren passierte — aber wir sind irgendwie dabei geblieben. Und alles andere hat sich um uns herum verändert.«
Ein Gespräch mit Harding und Wozencroft ist wie eine Zeitreise, bei der aber mindestens ein Fuß auf dem heutigen Boden steht. Die beiden schätzen es zwar sehr, lustige Anekdoten von anno dazumal zu erzählen oder auch in Sentimentalitäten über vergangene technischen Innovationen abzudriften (sie verehren beide die Fax Maschine bis heute als »Game Changer«, den sie als »Übergangsmedium aufgrund seiner Kombination aus handgeschriebenem und sich auflösendem Papier und digitaler Übertragung« hoch schätzen), verlieren aber nie die Uhr aus dem Blick. Die Welt von Wozencroft und Harding spielt definitiv in 2022. Schließlich wollen sie noch mindestens 40 Jahre weitermachen.
Zur Untermauerung betont Jon sein großes Interesse am musikalischen Potential, das in China schlummert, einem Land, das bis dato hauptsächlich über seine Kopier-Kultur in Erscheinung getreten sei, was sich aber sicherlich bald ändern würde. Mike wiederum empfindet die Umweltbewegung als potentiellen Nukleus für kulturelle Neuerungen — »schließlich sitzen die doch bestimmt nicht nur am Lagerfeuer rum«.
Selbst wenn man persönlich für beide Milieus nicht die Aufgeregtheit von Wozencroft und Harding teilt, und schon gar nicht ihren Optimismus, so wirkt die Begeisterung in den Augen und Worten der beiden dennoch ansteckend.