Ausgeprägt narzisstisch: Michael Scholly

Ein interessanter Typ

Der Kölner Filmemacher Georg Nonnenmacher wollte einen Dokumentarfilm über die Resozialisierung eines Mörders drehen — es kam dann alles ganz anders

»Neustart«, sollte sein Film eigentlich heißen, oder einfach nur »Scholly«. Dass es dann »Auf Anfang« wurde, ergaben Umstände, die sich jeder Planbarkeit entzogen. Der Kölner Filmemacher Georg Nonnenmacher hatte den verurteilten Frauenmörder Michael Scholly in den letzten drei seiner 28 Jahre Gefängnishaft aufgesucht, drei Jahre in der JVA Schwerte, die ganz im Zeichen verschiedener Resozialisierungsmaßnahmen standen, flankiert von einem ­hal­­ben Dutzend Betreuern — Psychologinnen, Ehrenamtliche, Bewährungshelferinnen — und aus nächster Nähe begleitet von Nonnenmachers Kamera. Die zeigt uns Scholly, wie er an anstaltseigenen Theateraufführungen teilnimmt, großformatig abstrakte Bilder malt, auf Freigang für ein Leben in Freiheit übt.

Eigentlich, so Regisseur Nonnenmacher, sei es seine Absicht gewesen, auch noch Schollys erstes Jahr in Freiheit zu begleiten, um festzuhalten, ob und wie er sich darin zurechtfindet. Dass es dazu nicht kommt, wissen die Zuschauenden jedoch bereits seit der ersten Einstellung. Denn nur wenige Wochen in Freiheit tötet er erneut eine Frau, seine spektakuläre Verhaftung in der eigenen Wohnung konnte per Livestream bei Facebook verfolgt werden; Scholly hatte eine Kamera in seinem Wohnzimmer installiert, die ihn eigentlich nur beim Nichtstun filmte, aber auch eingeschaltet war, als mit Blendgranaten und Gebrüll die Polizei eindringt. »Ich habe ­Michael Scholly kennengelernt, als ich einen Film über Gefangenentransporte machte«, erinnert sich Nonnenmacher an die Anfänge seines Films, »er fiel mir gleich auf wegen seiner besonderen Erzählweise, er war für mich als Dokumentarfilmer sofort ein interessanter Typ.«

1990 war Michael Scholly zu lebenslanger Haft verurteilt worden, seit 2004 saß er in der JVA Schwerte ein. Er habe ihm dort stolz von einem Gutachten erzählt, dass ihm eine Lockerung seiner Haft in Aussicht stellte. Allerdings könne es noch zwei oder drei Jahre dauern, bis sich ein Landgericht dann für oder gegen eine vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung ausspräche. »Das fand ich spannend, und Scholly war ­sofort Feuer und Flamme für das Projekt, obwohl ich ihn gewarnt hatte vor möglichen negativen Folgen, wenn er nach der Entlassung von Leuten erkannt wird aufgrund des Films.« Das konnte Scholly aber nicht abhalten, und so fiel Nonnenmacher zum ersten Mal dessen ausgeprägter Narzissmus auf: »Er fand es großartig, im Mittelpunkt zu stehen und hat ausgekostet, wenn die Kamera um ihn rumschwirrte.«

Schollys Selbstinszenierungen oszillieren zwischen Sendungsbewusstsein und Kitsch; Gebetsketten und Buddhafiguren werden sorgfältig in der kargen Zelle drapiert. Eigentlich habe er Balletttänzer werden wollen, gibt er zum Besten. »Ich habe so eine starke Kontrolle, stärker als Gott oder Jesus oder das Leben«, gibt Scholly einmal zu Protokoll. Würde es nur bei diesen absurden Selbstinszenierungen bleiben, dann wäre es auch ein Film voll unfreiwilliger Komik, doch diese Sichtweise wird unterlaufen durch den Totschlag unmittelbar nach der Haftentlassung: ein Gewaltakt, über den kein Zuschauender nach dieser verstörenden Persönlichkeitsstudie wirklich überrascht sein wird.


Wir haben uns ernsthaft gefragt, ob wir eine Mitverantwortung ­tragen, weil Scholly vielleicht auch mit unserem Film einen guten Eindruck machen wollte

Das wirft viele Fragen auf, auch nach der Verantwortung der durchaus wohlmeinenden Förderer dieser dramatisch missglückten Haftentlassung. »Ich weiß, dass sich der Leiter der Theatergruppe unwohl fühlte, wenn er durch die Straßen von Schwerte ging«, sagt Nonnenmacher. Auch er selbst stellte sich Fragen nach seinem Beitrag als Filmer: »Ich lag gerade im Krankenhaus, als ich von dieser Tat erfuhr. Natürlich haben wir überlegt, ob wir den Film noch machen können, das ist ja auch eine moralische Frage, über die ich lange mit meinem Co-Regisseur Mike Schlömer diskutiert habe. Wir haben uns ernsthaft gefragt, ob wir eine Mitverantwortung tragen, weil Scholly vielleicht auch mit unserem Film einen guten Eindruck machen wollte, um vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden.« Ein Beenden des Projekts sei aber schließlich keine Option gewesen: »Da spielten auch die vertraglichen Verpflichtungen eine Rolle. Das will ich gar nicht verhehlen. Ich hätte als Produzent den größten Teil der Fördergelder zurückzahlen müssen, was mich finanziell in arge Bedrängnis gebracht hätte. Aber dazu kam es nicht, da unsere Editorin uns davon überzeugen konnte, den Film fertigzustellen.«

Um so einen Film realisieren zu können, sei gegenseitiges Vertrauen von Regisseur und Protagonist essentiell. »Unser Vertrauen hat Michael Scholly ganz klar missbraucht. Er hat unseren Film als Plattform genutzt, sich als guten Menschen zu zeigen, der zu Unrecht verurteilt wurde«, beschreibt Nonnenmacher die Konflikte, »er hat auch vor unseren Augen gegen Bewährungsauflagen verstoßen, aber ich konnte ihn doch schlecht verpfeifen, er war ja auch mein Protagonist«. Einer, der unter den Augen seiner Umgebung mit Vorsatz einen falschen Weg einschlägt und sich jede Warnung verbittet: Auch er als Regisseur habe lautstark und eindringlich auf Scholly eingeredet, ohne ihn zu erreichen.

Beim Filmpreis NRW setzte sich »Auf Anfang« als Dokumentarfilm gegen ungleich größere Produktionen wie »Annette« mit Adam Driver und Marion Cotillard durch, der im letzten Jahr das Filmfestival in Cannes eröffnet hatte. »Der Filmpreis ist natürlich ein großes Plus«, freut sich Nonnenmacher über die Auszeichnung für seinen, wie er sagt, ­»Nischenfilm«. Ein Film, der zweifellos durch seine Entstehungs­­­ge­­schichte auch bei der Jury für Aufsehen gesorgt haben wird. Mehrfach sei er bereits gefragt worden, ob er die dramatische Wende seines Projekts als filmischen Glücksfall werte. »Überhaupt nicht«, wehrt sich der Regisseur vehement gegen diese Lesart, »es ist einfach nur tragisch, und ich hätte den Film viel lieber so zu Ende gebracht, wie ich ihn ursprünglich geplant hatte«.

Michael Scholly wurde 2019 wegen seiner neuerlichen Tat zu 14 Jahren Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. »Er hat mich gerade aus dem Knast angeschrieben. Er würde den Film gerne haben und in seine aktuelle Therapie einbauen«, erzählt Nonnenmacher, der dieses Gesuch kategorisch zurückweist: »Er würde meinen Film sofort wieder für seine Zwecke instrumentalisieren, das mache ich nicht. Ich möchte keinen Kontakt mehr.«