Ohne Titel, 1996
Auf dem zweiten Treppenabsatz zwischen Foyer und erstem Obergeschoss begegnet man einem kleinformatigen Gemälde von Siegfried Anzinger (ohne Titel, 1996). Darauf hebt sich die schlichte Form eines Karrens vor einem malerisch aufgeteilten, aber ansonsten im Unklaren belassenen Bildraum aus Farbfeldern in gedämpftem Grün, Tintenblau, Ocker und Grau hervor. Seine Flanke schattig schwarz, die Front lodernd in korallenrot — möglicherweise durch die untergehende Sonne angestrahlt und aufgehellt. Vor der schmutzig diffusen Farbigkeit, in der sich Erde und Himmel vermischen, zeichnet sich die lose Deichsel schwach ab, ebenso scheint das hintere Rad aus herunterlaufender schwarzer Farbe Gestalt anzunehmen.
Der Eindruck, den der einsame Bildgegenstand erweckt, muss offen und unbeantwortet bleiben. Denn Anzinger stellt die Gegenständlichkeit selbst in Frage, behauptet er doch, dass »die Form am stärksten wirkt in dem Moment unmittelbar vor ihrer Auflösung«. Folglich lenken keine aussagekräftigen Attribute, keine narrativen Elemente den Blick ab von der Einfachheit des Gegenstands, welcher verlassen an einem Ort ohne Verortung verharrt. Kein Pferdegespann, das den Karren zieht, kein Bauer, der ihn bewacht, keine erkennbare Ladung. Die auf wesentliche Merkmale konzentrierte Komposition besticht durch das, was man nicht sieht, was die Malerei durch die monochrome Eintönigkeit der Farbflächen dem Blick vorenthält. Solche Leerstellen verwehren den Einblick und werfen den Betrachter auf sich zurück.
Gerade hier, in der radikalen Reduktion, liegt die packende Ausdruckskraft sowie die symbolische Aufladung des Motivs begründet. Ein bloßes Ding von fast biblischer Bescheidenheit, das sich — von Anzinger bildwürdig und unsterblich gemacht — nicht nur im Ausstellungskontext jüdischer Geschichte zum wirkmächtigen, ewigen Sinnbild eines Schicksals von Flucht und Vertreibung erhebt. Obwohl man direkt darauf zusteuert, ist die beengte Ecksituation im turmhohen, fensterlosen Treppenhaus keine Stelle des Verweilens, sondern vielmehr des Vorbeigehens. Und während man sich abwendet und weiterzieht, speist sich auch das en passant der eigenen Bewegung in die existenzielle Dimension ein und wird zur Metapher für eine Reise ins Ungewisse.
In dieser Reihe schreiben unsere Kunstkritiker*innen jeweils über einen Aspekt oder ein Exponat der Jahresausstellung, das sie besonders fasziniert.
Kolumba: »In die Weite — Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland«, tägl. außer Di 12–17 Uhr, bis 15.8.22