Neues Kinderschutzgesetz in NRW: Mehr Aufwand bei gleichem Personal? Foto: Pexels

Luft nach oben

NRW bekommt das bundesweit anspruchsvollste Kinderschutzgesetz. Doch um es auch durchzusetzen, fehlt Personal

Münster, Lügde, Bergisch Gladbach: Die größten Missbrauchsskandale der deutschen Geschichte haben sich in Nordrhein-Westfalen ereignet. Auf einem Cam­ping­platz, in einer Gartenlaube, in digitalen Netzwerken. 2018 und 2019 wurden die Taten aufgedeckt. Die Landesregierung erklärte daraufhin den Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit. Innenminister Herbert Reul (CDU) vervierfachte die Zahl der Online-­Ermittler*innen auf rund 400 Personen, generalüberholte deren Ausrüstung und trieb 32 Mio. Euro für die Ermittlungen auf.

Im Zuge dieser fiel auf: Mitarbeiter*innen des Jugend­amtes hatten mehrfach versagt. In Lügde lebte ein Kind als Pflegekind bei dem Täter, der schon Jahre zuvor wegen sexueller Belästigung eines anderen Kindes angezeigt worden war. Im Fall Münster wusste das Jugendamt, dass der Haupttäter Kinderpornografie konsumierte. Das Leid der Kinder hätte früher beendet werden können, urteilte der Untersuchungsausschuss des Landtages in einem Zwischenbericht. Nun soll ein neues Kinderschutzgesetz in NRW Mindeststandards für den Umgang mit Verdachtsfällen regeln.

Zum 1. Mai 2022 tritt das neue Gesetz in Kraft, das etwa vorschreibt, dass Behörden »unverzüglich«, also auch nachts und am Wochenende, Informationen über Kindeswohlgefährdung aufnehmen und bearbeiten müssen. Dass bei der Beurteilung, ob ein Kind in Gefahr ist, das Vier- oder Sechs-Augen-Prinzip verpflichtend ist. Dass Mitarbeiter*innen der Jugend­ämter künftig auch ihr eigenes Handeln und ihre Risikoein­schätzung schriftlich dokumentieren müssen. NRW hat damit das anspruchsvollste Kinderschutzgesetz bundesweit. Doch die schwarz-gelbe Reform offenbart auch erstaunliche Befunde: Bislang waren die Jugendämter, die ohnehin unter Personalmangel und Einsparungen litten, hier kaum an Auflagen gebunden.


Fälle und Aufgaben lassen sich nicht ­einfach in Schemata ­pressen und mit entsprechenden Zeitressourcen hinterlegen Bundesarbeitsgemeinschaft der Jugendämter

Doch obgleich in den kommenden drei Jahren rund 224 Mio. Euro im Rahmen des Gesetzes bereit ­gestellt werden sollen, fehlt zumindest eines im neuen Kinderschutzgesetz: eine Obergrenze für die Zahl der Fälle, die eine einzelne Mitarbeiter*in beim Jugendamt betreuen darf. 2018 riet eine bundesweite Studie der Universität Koblenz, mehr als 35 Fälle pro Person seien nicht zuzumuten. Auch der Allgemeine Soziale Dienst, der Außendienstmitarbeitende der Jugendämter vertritt, bestätigte diese Zahl. Doch im neuen Kinderschutzgesetz taucht sie nirgends mehr auf: Mehr Arbeitsaufwand bei gleichbleibendem Personal, also?

»Die Berechnung der fachlich notwendigen Personalressourcen ist nicht einfach«, schreibt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in ihrem aktuellen Monitoring-Bericht. »Fälle und Aufgaben lassen sich nicht einfach in Schemata pressen und mit entsprechenden Zeitressourcen hinterlegen.« Mit anderen Worten: Nicht jedes Kind, das vom Jugendamt begleitet wird, braucht dieselbe intensive Zuwendung. Manchmal geht es um niedrigschwellige Maßnahmen, etwa Unterstützung in der Schule oder bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, andere Familien brauchen aufgrund ihrer Situation mehr Zeit und Zuwendung. Doch weil bislang jedes einzelne Amt Aufgaben und Zuständigkeiten eigenverantwortlich organisieren konnte, sei es nicht einfach möglich, die Arbeitsbelastung in verschiedenen Jugendämtern mit standardisierten Kennzahlen zu messen und zu vergleichen, heißt es im Bericht.

In NRW erarbeiten nun die beiden Landesjugendämter umfassende Kriterienkataloge, um einzuschätzen, wie viele Mitarbeiter*innen jedes Jugendamt vor Ort braucht. Bis Ende 2022 sollen diese sogenannten Personalbemessungsinstrumente vorliegen. Denn auch angesichts der zunehmenden Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe — etwa weil viele geflüchtete Kinder in Deutschland ankommen oder um mit den nachhaltigen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche umzugehen — müssen Voraussetzungen geschaffen werden. Das neue Kinderschutzgesetz ist ein erster Schritt, jetzt müssen Strukturen ausgebaut werden.