Ein denkwürdiger Wahn
Der Jurist Daniel Paul Schreber verfasste vor gut 120 Jahren eine Verteidigungsschrift in eigener Sache, die einen tiefen Einblick in die »deutsche Seele« zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Schreber, Senatspräsident des Dresdner Oberlandesgerichtes und Sohn des Namensgebers der Kleingarten-Bewegung Moritz Schreber, wurde nach Nervenzusammenbrüchen mehrmals psychiatrisch behandelt, bevor er wegen Verfolgungswahn und Halluzinationen eingewiesen und schließlich entmündigt wurde. Schreber versuchte dagegen juristisch vorzugehen. Seine hierzu verfasste Schrift »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, in der er davon fantasierte, in direktem Kontakt mit Gott zu stehen und darüber, dass kleine Männer in Gestalt winziger Menschengestalten sein Rückenmark auspumpen würden, beschäftigte die Psychoanalyse von Freud bis Lacan. Elias Canetti wertete sie als Vorzeichen des Nationalsozialismus.
Schrebers Krankengeschichte lieferte Stoff für Theaterstücke, Romane und Filmdrehbücher, nun hat sich der Kölner Komponist Marcus Schmickler an eine Vertonung gemacht. »Schreber Songs: Don’t Wake Up Daddy« wird auf dem Acht-Brücken-Festival uraufgeführt. Da der Bildungsbürger Schreber musikalisch geschult war — in der Irrenanstalt saß er am Tage in seinem Komfortapartment an einem ihm exklusiv zur Verfügung gestellten Pianino und spielte Etüden, nachts hockte er brüllend im Isolationszimmer — und seine »Denkwürdigkeiten« einiges Material für ein verstörenderheiterndes Libretto hergeben, drängt sich eine musikalische Inszenierung geradezu auf. Mit Daniel Gloger als klavierspielenden Countertenor hat Schmickler die passende Besetzung für den Titelhelden gefunden. Gloger dürfte zumindest durch seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten und bekennenden Masochisten Georg Friedrich Haas und dem Künstlerdesperado und »Nazi-Exorzisten« Jonathan Messe gut auf die Rolle des paranoiden Richters aus Sachsen vorbereitet sein. Die Kölner Vokalsolisten mimen die Stimmen, die Schreber die Wunder Gottes offenbaren, das Ensemble Ruhr und Schmickler selbst an der Live-Elektronik liefern die Begleitung.
Canetti hielt über den Paranoiker fest, dass dieser, »wo immer er eine Maske wegzieht, seinen Feind dahinter« findet. Er beschrieb ein Phänomen, dass heute wieder höchst aktuell ist.