»Vortex« von Gaspar Noé
Schwindelerregend und verstörend waren Gaspar Noés Filme schon immer, zuletzt etwa sein rauschhaft-suggestives Drogen-Sex-Tanzspektakel »Climax« (2018). Bekannt wurde er vor allem mit seinem umstrittenen Vergewaltigungs- und Rachedrama »Irreversibel« (2002), das er in umgekehrter Chronologie erzählt. Sein neuer Film, den er gleich »Vortex«, also Wirbel nennt, dürfte für seine Fans aus ganz anderen Gründen schockierend sein. Denn die hedonistischen Exzesse und oft juvenil wirkenden Grenzüberschreitungen sind dort einer berührenden Empathie gewichen, die das Porträt eines alten Ehepaars am Ende seiner Tage zu Noés vielleicht reifstem, in vielerlei Hinsicht jedenfalls persönlichstem Film macht.
Namen hat das Paar keine, braucht es nach all den gemeinsamen Jahren auch nicht mehr. Sie und er leben in einer charmant verwinkelten und mit Büchern vollgestellten Altbauwohnung in Paris, mit einer kleinen Dachterrasse, auf der sie inmitten von Pflanzen gerne mal ein Gläschen Wein genießen. »Ist das Leben nicht ein Traum?«, fragt sie ihn dort in einer der ersten Momente des Films und er paraphrasiert Edgar Allan Poe: »Ja, das Leben ist ein Traum in einem Traum.« Sie stoßen auf sich an — es wird der letzte glückliche Moment am Ende ihres Weges. Ein Leben lang haben sie geistig gearbeitet, sie als Psychoanalytikerin, er als Filmkritiker, und während sein Herz nicht mehr so recht will, entgleitet ihr der Geist.
In 135 Minuten erzählt »Vortex« von diesem alten Ehepaar. Noés Porträt spielt fast ausschließlich im Apartment der beiden. Bereits kurz nach Beginn des Films, mit einsetzender Demenz der Frau, teilt sich die Leinwand in zwei nebeneinanderstehende Bildrahmen. Die eine Kamera folgt dem Mann, wie er an einem Buchprojekt über Filme und Träume zu arbeiten versucht, die andere seiner zunehmend die Realität verlierenden Frau. Sie verrichten ihre alltäglichen Handlungen und Hausarbeiten, schlurfen durch die schmalen Flure und schummrigen Zimmer, die Wohnung wird zu einer weiteren Hauptfigur in diesem Kammerspiel. Durch die Enge und Unübersichtlichkeit, ebenso durch die in zwei nahezu quadratische Bildrahmen geteilte Leinwand, entsteht eine Beklemmung, die durch die improvisierte, offen anmutende Inszenierung kontrastiert wird.
Die Besetzung ist dabei in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Den Mann spielt der kultisch verehrte italienische Horror-Regisseur Dario Argento (»Suspiria«), geboren 1940, der ein Vorbild und jahrzehntelanger Freund Noés ist. Die Frau wird von Françoise Lebrun gespielt, Jahrgang 1944, die bekannt wurde durch ihre Rolle in Jean Eustaches Skandalfilm »Die Mama und die Hure« (1973). Auch die Wohnung steckt voller cineastischer Anspielungen, zum Beispiel die zahlreichen Filmplakate, mit denen der von Argento verkörperte Kritiker im Laufe der Zeit die Wohnung bestückt hat und die nicht minder etwas über Noés Obsessionen aussagen.
»Für alle, deren Hirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz«, lautet die Widmung gleich zu Beginn des Films, und sie setzt den Ton für eine berührende Auseinandersetzung mit dem Alter, dem Loslassen und dem Sterben: »Vortex« ist alles andere als ein kalkulierter Skandalfilm. Der in Argentinien geborene und in Frankreich lebende Noé hatte vor ein paar Jahren eine schwere Gehirnblutung, die ihn fast das Leben gekostet hat. Diese Erfahrung, ebenso wie die Demenzerkrankung seiner inzwischen verstorbenen Mutter, lässt den inzwischen 57-Jährigen offenbar anders auf das Dasein und unser Miteinander blicken: empathischer und würdevoller.
»Vortex« ist Noés Version eines Melodrams, rührselig wird er deswegen aber noch lange nicht: Ganz unsentimental hält er fest, wie sich zwei Existenzen langsam auflösen — und am Ende auch die Wohnung. Wie in Schlaglichtern leert sich das Apartment Stück für Stück von Möbeln, Büchern und letztlich den Erinnerungen, bis nur noch eine leere Hülle zurückbleibt.
F/B 2021, R: Gaspar Noé, D: Dario Argento, Françoise Lebrun, Alex Lutz, 135 Min.