Undurchdringlich: Alexei Nawalny

»Nawalny« von Daniel Roher

Daniel Roher zeigt den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny als gewieften Taktiker

Es ist die im wahrsten Sinne des Wortes unglaublichste Szene des bisherigen Kinojahrs: Am frühen Morgen des 14. Dezember 2020 telefoniert der russische Dissident Alexei Nawalny einen nach dem anderen die Männer ab, die mutmaßlich vier Monate zuvor einen Giftanschlag auf ihn verübt haben, den er nur knapp über­lebte. Zunächst meldet sich der 43-Jährige mit seinem echten ­Namen und fragt direkt, warum er umgebracht werden sollte. Nachdem die ersten Angerufenen wortlos aufgelegt haben, versucht Nawalny eine neue Taktik: Er gibt sich als Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes aus, der ­einen Report schreiben soll, warum der Anschlag nicht erfolgreich war. Und tatsächlich: Einer der Angerufenen schluckt den Köder und plaudert aus, wie das Gift ­angewendet und die Spuren verdeckt wurden.

Mit Nawalny im Raum sind in diesem Moment der Bellingcat-Reporter Christo Grozev, der die Namen und Telefonnummern der mutmaßlichen Killer recherchiert hat, Maria Pevchikh, die Leiterin der Ermittlungseinheit der Anti-Korruptions-Stiftung Nawalnys, und die Kamera des kanadischen Regisseurs Daniel Roher, der gerade einen Dokumentarfilm über Nawalny dreht. Den besten Beweis, dass die Szene keine Inszenierung ist, liefert wohl der Gesichtsausdruck von Pevchikh während Nawalnys Telefonat: Er wechselt sekündlich zwischen Überraschung, Erstaunen, Unglaube, Freude und Trauer. Man kann förmlich zusehen, wie langsam die Erkenntnis einsetzt, hier einem historischen Moment beizuwohnen. Wenn diese emotionale Achterbahnfahrt gespielt ­wäre, hätte Pevchikh einen ­Oscar verdient.

Rohers Film deckt vor allem die Zeit von der Vergiftung Nawalnys bis zu dessen Rückkehr nach Russland ab — also seine Behandlung in der Berliner Charité und die Reha im Schwarzwald. In Interviewsequenzen muss er sich aber zum Teil auch unbequemen Fragen nach seiner Vergangenheit stellen, etwa seine Auftritte mit Ultranationalisten. Das Interview ist im Stile der Filme von Errol Morris gefilmt, in denen der Interviewte direkt in die Kamera spricht und der Interviewer nicht zu sehen ist. Trotz dieser intimen Situation und vielen Sequenzen, die ihn mit seiner Frau und seinen Kindern zeigen, bleiben Nawalnys Persönlichkeit und Motivation aber seltsam undurchdringlich. Seinen Mut allerdings kann ihm niemand absprechen.

USA 2022, R: Daniel Roher, 98 Min.