Radikaler Gegenentwurf zu »L’Orfeo«: progressiv, postkolonial, feministisch, schwarz © Silvia Dierkes

Die Schwarze Eurydike spricht

Das kainkollektiv bringt feministische und postkoloniale Perspektiven in die Oper

Ob in der Literatur, den bildenden Künsten, der Musik: Die Erzeugnisse historischer Künstler, die übergreifend als »Meisterwerke« tituliert werden, gelten als ihrer Zeit voraus, als geniale Meilensteine ihrer Gattung. Sie  werden mit grenzenlosem Ruhm bedacht und haben das seltene Schicksal, in unserer Welt nicht in Vergessenheit zu geraten. Diese Meisterwerke und ihre Schöpfer eint vor allem eins: Sie sind männlich, weiß, und europäisch.

Dazu gehört ohne Zweifel auch die berühmte Oper »L’Orfeo« von Claudio Monteverdi. Wir erinnern uns: Die griechische Sage um den begnadeten Sänger Orpheus und Eurydike, deren glühende Liebe mit dem Tod Eurydikes durch einen Schlangenbiss ein jähes und schmerzhaftes Ende findet. Krank vor Trauer steigt Orpheus ins Totenreich hinab, und er schafft es, durch seine herzzerreißenden Klagelieder den Fährmann und die Götter der Unterwelt zu überzeugen, ihm Einlass zu gewähren und Eurydike zurückzuholen — unter der Bedingung, dass er sie auf dem Weg vom Reich der Toten in das der Lebenden nicht ansehen darf. Unfähig, den Blick von seiner Geliebten abzuwenden, dreht er sich, kurz bevor sie das Tor zur Welt erreichen, nach ihr um und verliert Eurydike für immer. 1607 in Mantua uraufgeführt genießt Orfeo den Ruf, die erste Oper überhaupt zu sein. Zur gleichen Zeit laufen die ersten Schiffe der europäischen Kolonialmächte aus, um auf anderen Kontinenten eine Schneise von Raub und Zerstörung zu schlagen, deren Folgen bis heute nachwirken.

Monteverdis Orfeo bietet den Bezugspunkt für das Musiktheaterstück »Black Eurydice«, das ab dem 29. April im FFT Düsseldorf aufgeführt wird. Intermedial, interdisziplinär und international verknüpft das in Bochum ansässige kainkollektiv die Erfindung der europäischen Oper mit der Kolonialgeschichte und der Rolle der Frau — zwei Dinge, die in diesem Kontext bislang weitgehender Ausblendung unterworfen waren. Mirjam Schmuck gehört zum Gründungs- und Kernteam des kainkollektiv. Warum wählt sie als Medium für diese Themen ­gerade die Oper, diese schwer ­zugängliche, leicht angestaubte Kunstform mit den opulenten Kostümen und dem abstraktem Gesang?

»Die Oper hat für uns als Performer*innen etwas inhärent Spannendes, weil der Protagonist darin sein Leid singt — eigentlich ein Widerspruch, und das noch vor dem Hintergrund von Bühnenbild und Licht. Das macht es in unseren Augen zur artifiziellsten Kunst, die es gibt«, sagt Schmuck. Die dekonstruktive Kraft des Performance-Theaters sei es, die mit dieser alten und ursprünglichen Stilrichtung ein gutes Match bildet. Die Verknüpfung mit dem ­Kolonialismus sei vor allem durch den gemeinsamen Zeitrahmen so erschreckend offensichtlich. »Im Stück fährt Orpheus mit dem Schiff in den Hades um Eurydike zu retten. Zum beinahe exakt gleichen Zeitpunkt der Aufführung kreuzen die ersten Kolonialschiffe das Meer. Diese Widersprüche prägen in dieser Epoche die gesamte europäische Welt der Kunst. Louis Quatorze eröffnet in Frankreich die erste Ballettakademie und erlässt gleichzeitig den Code Noir — eine Anleitung für den Umgang mit Sklaven in den Kolonien«, so Mirjam Schmuck.

Die zweite ungehörte Perspektive ist die weibliche. Dass Frauen still herhalten müssen, um den Männern eine Bühne für ihr Heldentum zu schaffen, ist auch in der Oper ein gängiges Phänomen, bemängelt Schmuck: »Eurydike hat im Original nur zwei kurze ­Gesangsstellen. Ansonsten ist sie stumm, während alle anderen ­Orpheus Präsenz und seinem Gesang erliegen. Um die Enden zu verbinden, wird die schwarze Eurydike zur Protagonistin, das Ensemble zur Schwesternschaft, die sich über ihr Schwarz-sein oder ihr Frau-sein in der Performance mitteilen.«


Dass Frauen still her­halten müssen, um den Männern eine Bühne für ihr Heldentum zu schaffen, ist auch in der Oper ein gängiges Phänomen

»Black Eurydice« ist ein radikaler Gegenentwurf zum ursprünglichen Werk: progressiv, postkolonial, feministisch, schwarz. Fünf kontemporäre Komponistinnen aus Kamerun, Südafrika, dem Iran, Kanada und Europa hat das kainkollektiv für das Projekt eingeladen, die die musikalische Urfassung mit ihren eigenen Interpretationen überspielen. Das dient auch dazu, einen Empowerment Space für Komponistinnen zu schaffen, die, wie man weiß, immer schon komponiert haben, aber nie gehört wurden. Mit den Werkzeugen eines multimedialen Musiktheaters soll den Betroffenen die Möglichkeit gegeben ­werden, sich mit ihren Stimmen und ihrem Ausdruck den möglichst breiten Raum zu nehmen, der ­ihnen in der traditionellen ­europäischen Oper bislang verwehrt wurde.

Eine dieser Stimmen ist die der Schauspielerin Edith Voges Nana Tchuinang aus Kamerun. Ein bekanntes Gesicht im kainkollektiv, zuletzt sichtbar in der Inszenierung »Fin de Mission — Ohne Auftrag Leben«, das sich mit der Sklaverei in Kamerun auseinandersetzt, die in der Geschichte des Landes kaum Erwähnung findet. Gegen intersektionale Diskriminierung sieht sie die Bühne und das Schauspiel als probates Mittel: »Ich benutze für mich einen ganz besonderen Begriff: Feminist for decolonization. Dieser Ausdruck trägt viel meiner Identität in sich. Ich bin eine schwarze Frau und betroffen von Rassismus und ­Sexismus, aber eben auch von ­Kolonialismus und Kapitalismus. ­Gerade im Theater ist es für schwarze Frauen sehr schwierig. Deswegen will ich in jedem Stück, das ich mache, eine Rolle finden, die stark und machtvoll ist.«

Auf die Frage, wie viel von ihrer persönlichen Historie in der Inszenierung steckt, winkt sie ab. »Es geht nicht um mich als einzelne Person, sondern darum, unsere Stimmen zu vereinen. Wir wollen frei sein und wir wollen etwas sagen. Wie Eurydike sind wir keine Dekoration, sondern wollen die Protagonistinnen unserer eigenen Geschichten werden. Wir sehen, was uns voneinander unterscheidet, aber wir sehen auch, was uns eint. Mit den Elementen der Performance, mit dem Tanz, der Musik und mit dem, was wir zu sagen haben, kreieren wir etwas Großes um die Probleme zu bekämpfen, die uns betreffen.«

Als die Kolonialschiffe vor langer Zeit die Segel setzten, waren die Weichen für die Erschütterung von Generationen gestellt. Der bittere Dualismus der Thematik ist unverkennbar: Während die einen Wohlstand und Rampenlicht genießen, blüht den anderen Unterdrückung und Ausbeutung. Die szenische Verhandlung soll nicht dazu führen, dass sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst, sondern zuerst einmal denen eine Plattform geben, die viel zu lange ungehört waren.