Die große Kinderlotterie

Hunderte Viertklässler haben keinen Platz an einer weiterführenden Schule bekommen. In Losverfahren müssen sie gegen andere Kinder antreten und auf Wartelisten ausharren, weil ihre Stadt es nicht schafft, genügend neue Schulen zu bauen und marode Schulen zu sanieren. In diesem Jahr konnten Eltern ihre Kinder erstmals an mehreren Schulen gleichzeitig anmelden, was zu noch mehr Chaos und Ungerechtigkeit als in den vergangenen Jahren führte. Eltern, Kinder und Schulleiter fordern, dass der Schulbau endlich vorangeht. Dennoch wird der Mangel an Schulplätzen in den kommenden Jahren noch dramatischer werden

Als Konrad am 15. März vom Fußballtraining nach Hause kommt, geht er als erstes zum Briefkasten. Endlich ist die lang ersehnte Post der Stadt Köln da! Er schnappt sich die drei Briefe und stürmt die Treppen im Klettenberger Mietshaus hoch. Gemeinsam mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern reißt er die Umschläge mit dem Bescheid für die weiterführenden Schulen auf, aufgeregt, voller Vorfreude: »Das ist ja auch eine Entscheidung über mein weiteres Leben«, sagt Konrad, der neun Jahre alt ist und die vierte Klasse einer Grundschule in Klettenberg besucht. Dann der Schock: In den Briefen steckten nur Absagen.

Weil Mathe und Sachkunde seine Stärken sind, wollte er am liebsten die naturwissenschaftliche Klasse des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums besuchen, das gleich in seiner Nachbarschaft liegt. Am Schiller-Gymnasium und am Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium, die ebenfalls gut zu erreichen sind, hatte er sich auch angemeldet.

»Warum will mich keine Schule?«, ruft Konrad und blinzelt tapfer. Am Morgen, nachdem die Absagen kamen, verkündet er am Frühstückstisch: »Ich mache keine Hausauf­gaben mehr und wiederhole eine Klasse. Viel­leicht habe ich nächstes Jahr mehr Losglück.« Das Vorhaben hat er mittlerweile aufgegeben, es wäre auch schwierig bei einem Zeugnis mit acht Einsen und zwei Zweien. Stattdessen schrieb er einen Brief an Ober­bürgermeisterin Henriette Reker, sammelte 320 Unterschriften gegen das Anmelde­ver­fahren und übergab sie bei der »Schuldemo« an die Leiterin des Schul­amts, Anne ­Ritter. »Ich wollte mal sagen, dass dieses System gemein für alle Kinder ist. Dass man gelost wird und nicht dahin gehen kann, wohin man will und wo die Freunde sind.« Eine Antwort hat Konrad nicht erhalten.

In Konrads Klasse hatten zunächst sechs weitere Kinder keinen Platz bekommen. Doch nach und nach rückten sie über Wartelisten nach. »Da hat Konrad natürlich gehofft, dass es bei ihm auch noch klappt. Doch es gab jeden Tag eine neue Enttäuschung«, erzählt Ulrike Dehne, Konrads Mutter. Seine engsten Freunde bekamen Plätze — weil sie mehr Losglück hatten, oder ältere Geschwister, die die begehrte Schule bereits besuchen. Nur sein Freund Valen­tin ging ebenfalls leer aus.


In Sülz und Klettenberg kennt man den Mangel seit Jahren. Inzwischen sieht es auch in Porz und Ehrenfeld schlecht aus

Auch Elikia aus Porz-Ensen bekam im März nur Absagen. Am liebsten wollte sie, wie die meisten Kinder aus ihrer Grundschule, das Lessing-Gymnasium in Zündorf besuchen. Diese Schule aber wählte die Kinder in diesem Jahr nach der Nähe der zuletzt besuchten Grundschule aus. Kinder aus Ensen, die keinen Geschwisterbonus hatten, blieben ohne Chance. Elikia ist zweisprachig aufgewachsen, sie hat sich deshalb auch am Schaurte-Gymnasium in Deutz angemeldet, das einen Schwerpunkt auf Fremdsprachen und Austauschprogramme legt. Dort wurden die Plätze ausgelost. Elikia wurde nicht gezogen.

Konrad und Elikia sind zwei von 9.600 Viertklässlern in Köln, die in diesem Jahr auf eine weiterführende Schule wechseln. Reine Formsache, sollte man denken, doch in Köln spielen sich rund um diesen Übergang Dramen ab. Seit rund zehn Jahren gibt es in Köln mehr Anmeldungen als Plätze an weiterführenden Schulen, und die Kluft wird immer größer. Köln wächst und hält am Ziel der »wachsenden Stadt« auch weiter fest. Doch während die Zuzüge und die Geburtenzahlen steigen, ­geschah im Schulbau jahrzehntelang viel zu ­wenig. Stellen in der Stadtverwaltung wurden eingespart, Schulen nicht instand gehalten, der Neubau fast völlig eingestellt — gerade so, als habe man als Stadt wichtigeres zu tun, als Kindern einen Schulplatz zur Verfügung zu stellen. Schon vor fünf Jahren rief die dama­lige Schuldezernentin ­Agnes Klein (SPD) den Schulnotstand aus. Die Entwicklung sei dramatisch, sagte Klein damals. Man müsse endlich mehr und schneller bauen. Nötig seien rund 40 neue Schulen in den nächsten fünf bis acht Jahren — der genannte Zeitraum hat nun begonnen. Seither wurden zwar manche »Schulbaupakete« auf den Weg gebracht, doch diese konnten den ­gigantischen Rückstand nicht wettmachen. Sehenden Auges bewegte sich Köln auf das Desaster zu. Nun ist es ein­getreten.

Knapp tausend Kinder wurden an Gesamtschulen abgelehnt, rund 450 Plätze fehlen an Gymnasien. In Sülz und Klettenberg kennt man den Mangel seit Jahren, inzwischen sieht es auch in Ehrenfeld und Porz schlecht aus.

»Ich wusste zwar, dass Schulplatzmangel in Köln ein Thema ist«, sagt Elikias Mutter am Telefon. »Aber mir war nicht klar, dass auch Porz so davon betroffen ist.« Neben Ensen hat es in diesem Jahr vor allem Langel im Süden von Porz getroffen. Dort bekam ein ganzer Grundschuljahrgang — bis auf zwei Kinder mit Geschwister-Bonus — eine Absage vom Gymnasium Zündorf, später konnten viele über Wartelisten nachrücken. Während in den vergangenen Jahren viele Langeler Kinder über die Stadtgrenze nach Niederkassel zur Schule fuhren, fiel dieses Jahr auch diese Option weg. Denn auch das Kopernikus-Gymnasium in Niederkassel hat inzwischen mehr Anmeldungen als Plätze, da kann man nicht noch Kölner Kinder aufnehmen.

In der Theorie steht es allen Kölner Familien frei, ihre Kinder an der Schule ihrer Wahl anzumelden. Praktisch haben viele diese Wahl nicht. Das betrifft sogar die Schulform: Knapp tausend Kinder haben keinen Platz an einer Gesamtschule bekommen. Von diesen Abgelehnten wiederum weichen viele auf Haupt-, Real- oder Förderschulen aus, einige Hundert aber bewerben sich auch um einen der ohnehin knappen Gymnasialplätze — obwohl sie dort gar nicht hin wollten.

Wenn in NRW eine Schule mehr Anmeldungen als Plätze hat, muss sie nach gesetzlich festgelegten Kriterien auswählen. Sie kann bevorzugt Kinder auswählen, deren ältere Geschwister bereits die Schule besuchen. Sie kann so auswählen, dass ein ausgewogenes Verhältnis von Jungen und Mädchen sowie von Kindern unterschiedlicher Muttersprache erreicht wird. Sie kann die Schulweglänge berücksichtigen. Und sie kann das Los entscheiden lassen, ein besonders rechtssicheres Verfahren.

So hingen die Bildungswege der Kölner Kinder in den vergangenen Jahren immer stärker vom Losglück ab. Am Ende bemühten sich aber Stadt und die Bezirksregierung als Schulaufsichtsbehörde, für jedes Kind eine verträg­liche Lösung zu finden, wenn der Erst- und Zweitwunsch nicht erfüllt werden konnte. Stets wurden dann Mehrklassen eingerichtet — also zusätzliche Klassen an Schulen, die darauf räumlich und personell kaum ausgerichtet sind.

Vor einem Jahr jedoch änderte die Stadt Köln mitten im Prozess das Verfahren. Nicht mehr die Stadt schlug den Eltern nach einer erfolglosen ersten Runde einen Platz vor, sondern diese sollten ihr Kind selbst an einer anderen Schule anmelden. Die Bezirksregierung hatte sich aus dem Verfahren zurückgezogen, weil sie angesichts des großen Schulplatzmangels erhebliche Bedenken hatte und Klagen fürchtete. So mussten sich manche Schüler mehreren Losverfahren hintereinander stellen — so lange, bis sie an einer Schule Glück hatten.

Dieses Chaos dürfe sich keinesfalls wiederholen, ­sagte Schuldezernent Robert Voigts­ber­ger (SPD) damals. Und er hat recht behalten. In diesem Jahr hat das Chaos ganz neue Dimen­sionen angenommen.

Schuld daran ist das besondere Anmeldeverfahren in diesem Jahr. Erstmals wurde den Eltern offiziell die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kinder an mehreren Schulen gleichzeitig anzumelden, und viele taten dies. Den 9.600 Viertklässlern standen 15.200 Anmeldungen gegenüber, einige hatten ihre Anmeldebögen an bis zu 15 Gymnasien verschickt. So erhielten viele Schüler mehrere Absagen, andere auch mehrere Zusagen. Manche zögerten die Annahme eines Platzes so lange wie möglich hinaus, in der Hoffnung, noch einen Anruf von ­einer noch begehrteren Schule zu bekommen. Andere nahmen in ihrer Verzweiflung den erstbesten Platz an, nicht wissend, ob sie ­später noch einen Nachrückerplatz an der Wunsch­schule bekommen hätten. War die Schulplatzvergabe durch das Losverfahren schon in den Jahren zuvor ein Glücksspiel gewesen, so hat es in diesem Jahr den Charakter eines Wettsports angenommen.

Vor dem Sekretariat des Schiller-Gymna­siums in Sülz hängen die Auszeichnungen aus den vergangenen Jahren. Ein Schultheater-Preis, die Ernennung zur »Schule der Vielfalt« oder zur »Medienscouts-Schule«. Doch niemand beachtet sie, alle sind hier in Eile. Schon im vergangenen Jahr hatte das Schiller-Gymnasium stadtweit die meisten Anmeldungen; von 240 Kindern konnte Schulleiter Georg Scheferhoff nur die Hälfte aufnehmen. In diesem Jahr gingen wegen des neuen Verfahrens 400 Anmeldungen ein — für weiterhin nur 120 Plätze. »Der hohe Aufwand für die Verwaltung ist da nur das eine«, sagt Scheferhoff, der nur mit Not ein halbes Stündchen für ein Gespräch über das Chaos finden konnte. »Das Telefon klingelt pausenlos. Die Eltern haben Nach­fragen, viele kommen auch persönlich vorbei und wollen den Schulleiter sprechen.« Später wird ein anderer Schulleiter berichten, dass er gar Anschreiben aus »hochgestellten Familien« bekommen habe, ob man sich unter vier Augen treffen könne. Da müsse sich doch etwas ­machen lassen.

»Man fühlt sich einfach hilflos«, sagt die Sekretärin des Schiller-Gymnasiums. Sie berichtet von Eltern, die zu weinen beginnen, weil sie nicht fassen können, dass alle Mitschüler ihres Kindes einen Platz bekommen sollen, nur ihr Kind nicht. »Das Losverfahren ist für die einzelnen Kinder hart, aber es ist nun einmal das gerechteste«, sagt Georg Schefer­hoff. Und: Es ist rechtssicher. Im vergangenen Jahr legten 40 Eltern Widerspruch ein, ohne Erfolg.

Dieses Jahr zog Scheferhoff erstmals Kinder aus Mülheim und anderen weit entfernten Bezirken aus dem Lostopf. »Zum Glück nur vereinzelt«, sagt Scheferhoff. »Aber da fragt man sich schon: Wollten die wirklich zu uns oder sind wir nur die Notlösung?« Kulturelle Bildung sei der Schwerpunkt des Schiller-Gym­nasiums, sagt Scheferhoff. Man verstehe sich als »Schule im Veedel« und lege großen Wert darauf, dass Kinder für sich und ihre ­Mitschüler Verantwortung übernehmen.

»Wir ­haben hier einen tollen Geist an der Schule.« Nun fragt Scheferhoff sich, wie sich das diesjährige Verfahren auswirken wird, wenn vielleicht Schüler kommen, die mit dem Profil des Schiller-Gymnasiums nichts anfangen können.


Das Telefon klingelt pausenlos. Die Eltern haben Nachfragen, viele kommen auch persönlich vorbei und wollen den Schulleiter sprechen
Georg Scheferhoff, schulleiter

Das Kölner Verfahren schlug hohe Wellen. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) schimpfte auf die Kölner Schulverwaltung: Aus »mir nicht nachvollziehbaren Gründen« habe man ein Verfahren gewählt, das nicht den Verwaltungsvorschriften des Landes entspreche. Doch im nordrhein-westfälischen Schulrecht sind Mehrfachanmeldungen nicht ausgeschlossen. Bereits im Jahr 2000 hatte das Oberverwaltungsgericht Münster so ge­urteilt, auch wenn interne Verwaltungsvorschriften des Landes sie weiterhin verbieten.

Sind die Eltern also selbst Schuld an dem Chaos, weil sie die Mehrfachanmeldungen gerichtlich erstritten haben? Dieser auch von Kölner Schulpolitikern geäußerte Vorwurf macht Olaf Wittrock fassungslos. Wittrock hat im vergangenen Jahr die Elterninitiative »Die Abgelehnten« gegründet, die sich für ein besseres Vergabeverfahren einsetzt. »Das Urteil ist 22 Jahre alt und die Chancengleichheit gebietet es, alle Eltern über die Gesetzeslage auf­­zu­klären.« Dies habe die Schulverwaltung schließlich eingesehen, so Wittrock. Doch das komplexere Verfahren mit Mehrfachanmeldungen habe dort offenbar niemand durchdrungen. Wittrock zählt zahlreiche Fehler des Verfahrens auf, die es seiner Einschätzung nach juristisch angreifbar machen. So hätten die Eltern unterschiedlich lange Fristen bis zur Annahme eines angebotenen Schulplatzes genannt bekommen, auch seien die Informationen auf der Homepage der Stadt mehrfach geändert worden, ohne dies kenntlich zu machen. »Wenn man schon Glücksspiel macht, müssen vorher die Quoten bekannt sein. Wäre die Stadt ein Wettbüro, müsste man es dicht­machen.« Die Politiker im Schulausschuss ­hätten das Verfahren stoppen müssen, findet Witt­rock.

Die Mitarbeiter der Schulverwaltung agierten wie Getriebene, sagt Wittrock, die angesichts der dramatischen Zahlen hektisch am Verfahren rumdokterten, bis sich doch noch ein Schulleiter erbarme und sich eine Mehrklasse aus den Rippen schneide. Stattdessen solle die Stadt endlich Initiative zeigen. Solange der Überhang von Anmeldungen so groß sei, könne die Stadt etwa Schuleinzugsbereiche auch für weiterführende Schulen ausweisen. Ähnlich wie bei Grundschulen würde den Kindern dann ein Schulplatz in Wohnortnähe zugewiesen. »Die freie Schulwahl nach Profil ist doch im Moment sowieso obsolet«, so Witt­rock. »Da sollten die Kinder wenigstens in ihrem Veedel zur Schule gehen können.«

Auch in der Politik ist der Jammer groß. »Meine Fraktion wird diesem Verfahren nicht mehr zustimmen«, sagt Helge Schlieben (CDU), Vorsitzender des Schulausschusses. »Die Mehrfachanmeldungen haben den Eltern und Kindern nichts gebracht außer schreckliche Wochen.« Mit den Bündnispartnern von ­Grünen und Volt hat Schlie­bens Fraktion eine Aktuelle Stunde im Rat beantragt. Die Stadt müsse unbedingt zum Verfahren mit Erst- und Zweitwunsch zurückkehren. Darin ist Schlieben sich mit seinem SPD-Kollegen Oliver Seeck ­einig. »Das Land muss das Schulgesetz anpassen und eine Sonderregelung für überlastete Kommunen einführen«, so Seeck. Spätestens im Herbst sei klar gewesen, welches Chaos auf Schulen und Familien zukomme. Die Schul­leitungen der Kölner Gymnasien hätten davor gewarnt. »Der Kölner CDU-Chef und Landtagsabgeordnete Bernd Petelkau und die FDP hätten auf Landesebene ihren Einfluss nutzen müssen, um die Mehrfachanmeldungen zu unterbinden«.

Seeck beklagt, dass der Schulbau immer wieder vergessen werde. Auch bei der »Weststadt« in Ehrenfeld, wo 1.700 Wohnungen entstehen sollen, war keine weiterführende Schule geplant. Das Neubaugebiet liegt zwischen den völlig überlaufenen Gesamtschulen Wasseramselweg und Heliosschule, die jeweils mehr als 200 Kinder ablehnen mussten. »Wo sollen die Kinder denn zur Schule gehen?«, sagt Seeck. Erst auf Antrag der SPD entschied die Politik dann, dass dort auch eine weiterführende Schule geplant werden muss.

Sein Kollege Schlieben von der CDU wiederum weist darauf hin, wie stark das Bündnis aus CDU, Grünen und später auch Volt  den Schulbau in den vergangenen Jahren forciert habe. Schlieben meint die »Beschleunigungspakete« aus den Jahren 2018 und 2020, die zusammen rund zwei Milliarden Euro umfassen. Mit dem Geld sollen Generalunternehmer an dreißig Schulstandorten in fünf bis sieben ­Jahren neu bauen oder sanieren. »Oberbürgermeisterin Reker und das Ratsbündnis haben den Schulbau zur Priorität erklärt«, findet Schlieben. »Hätte man ähnliche Prozesse bereits 2010/2011 unter einem SPD-Oberbürger­meister Roters begonnen und die städtische Gebäudewirtschaft verstärkt, hätten wir jetzt nicht so viel aufzuholen«, so der CDU-Politiker. Schlieben verweist außerdem auf die neue Schulbaugesellschaft, die Ende des Jahres ihre Arbeit aufnehmen soll. Ihre Aufgabe ist vor ­allem das Planen und Bauen von Schulen in Neubaugebieten wie etwa Kreuzfeld im Kölner Norden.

Schlieben lobt, dass zwei neue Gymnasien an der Aache­ner Straße und der Zusestraße im Sommer den Betrieb aufnehmen. »Es sieht so aus, als hätten wir erstmals seit langem wieder genügend Gymnasialplätze in Lindenthal«, so Schlieben. »In den letzten sechs Jahren haben wir 1.100 neue Schulplätze geschaffen.«

Die Zahl der Kinder, die auf eine weiter­führende Schule wechseln, ist jedoch allein von 2021 bis 2022 um rund tausend gestiegen. Mit 1.100 Plätzen in sechs Jahren ist da nicht viel gewonnen. Kann man bei solchen Zahlen wirklich behaupten, der Schulbau stehe in der Prioritäten­liste ganz oben? Zumal im kommen­den Jahr — bei erneut steigenden Schüler­zahlen — keine einzige neue Schule öffnen wird. Hinzu kommen Hunderte, wenn nicht Tausende Kinder aus der Ukraine, die in die Kölner Schulen integriert werden müssen. Und dann ist da noch das Schuljahr 2026/2027, vor dem es allen in der Schullandschaft graust. Denn dann erfolgt die Umstellung vom acht- aufs neunjährige Gymnasium. Ein ganzer Jahrgang — mehr als viertausend Schülerinnen und Schüler — bleibt dann zusätzlich in den Schulen, benötigt Räume und Lehrer.

»Es muss noch mehr passieren«, sagt CDU-Politiker Helge Schlieben. »Was das Schuljahr 2023/2024 angeht, verlange ich von der Verwaltung, dass mindestens eine neue Gesamtschule im Interim vorzeitig an den Start geht.«

An keiner Schulform herrscht in Köln ein solcher Mangel wie an Gesamtschulen. »Gäbe es mehr Gesamtschulen, hätte auch das unwürdige Lotteriesystem am Gymnasium ein Ende«, sagt Horst Schneider. An einem sonnigen Tag Ende März läuft er über ­einen Acker in Rondorf, das zum Bezirk Rodenkirchen gehört. Hier soll bald »Rondorf Nord-West« entstehen, ein Neubaugebiet mit 1.300 Wohnungen für rund 3.000 Menschen, viele davon ­Eltern mit Kindern. Die ersten Ein­familien­häuser mit Klinkerfassade stehen schon. Horst Schneider hat 30 Jahre lang die benachbarte Gesamtschule Rodenkirchen geleitet. Viele seiner Schülerinnen und Schüler kamen aus Rondorf. Als er hörte, dass im Neubaugebiet ein Gymnasium gebaut werden soll, sei er aus allen Wolken gefallen, sagt Schneider. Die Verwaltung hatte hier eigentlich eine Gesamtschule vorgesehen. Ein Ratsbeschluss von CDU, Grünen und FDP kippte jedoch 2018 das Vorhaben. Schneider gründete daraufhin die Bürgerinitiative »Gesamtschule Rondorf« und sammelte Unterschriften. Unterschrieben ­haben unter anderem alle 17 Leiter der um­liegenden Schulen. Von Rondorf aus sind acht Gymnasien mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen – aber nur zwei Gesamtschulen. Schneider ist überzeugt: »Der mehrheit­liche Wunsch von Kindern und Eltern ist eine Gesamtschule.« Auch die Bezirksvertretung Rodenkirchen setzte sich für eine Gesamtschule ein — mit Ausnahme der CDU. »Da geht es auch darum, die Kinder vom Kölnberg fernzuhalten«, sagt Schneider und deutet Richtung Süden, wo die Türme der Hochhaussiedlung in den stahlblauen Himmel ragen.

Das Ratsbündnis aus Grünen, CDU und Volt beharrt auf dem Gymnasium, obwohl die Grünen, die in ihrem Wahlprogramm für den »vorrangigen und schnellen Ausbau weiterer Gesamtschulen« eintreten, stärkste Kraft sind. Bärbel Hölzing, schulpolitische Sprecherin der Grünen, erklärt das so: »Wir haben dem Gymnasium in Rondorf zugestimmt, dafür wurden uns zwei Gesamtschulen in der Parkstadt-Süd und in Ossendorf zugesichert.« Hölzing möchte am »Gesamtpaket«, das in der vergangenen Ratsperiode mit der CDU vereinbart wurde, nichts mehr ändern.


Gäbe es mehr Gesamt­schulen, hätte auch das unwürdige ­Lotteriesystem am Gymnasium ein Ende
Horst schneider, Ex-Schulleiter ­Gesamtschule Rodenkirchen

Zwischen 1981 und 2010 wurde in Köln keine einzige Gesamtschule gebaut. Erst 2010 erstritt eine Elterninitiative die Gründung einer Gesamtschule in Nippes. Auch in diesem Jahr wurden nur 54 zusätzliche Plätze an den bestehenden Gesamtschulen geschaffen, obwohl der Schulentwicklungsplan davon ausgeht, dass in den nächsten Jahren 13 neue Gesamtschulen und acht Gymnasien benötigt werden. Die näch­ste Gesamtschule soll erst 2027 an der Fitzmauricestraße in Ossendorf an öffnen. In der Nachbarschaft sollte ein Interim mit 107 Schulplätzen vorzeitig starten, doch der Plan wurde kürzlich von der Verwaltung verworfen.

Ebenso verwarf die Verwaltung den Antrag der SPD, an der Vogelsanger Straße einen Interimsbau für eine Gesamtschule zu errichten. Sie ist ohnehin seit einem Jahr wegen Bau­arbeiten gesperrt. Die einzige Chance, den Notstand abzuwenden, bestehe aber doch ­darin, »unkonventionelle Wege zu gehen«, so Oliver Seeck, der schul­politische Sprecher der SPD. An der Vogelsanger Straße wäre ein Interim doch kein Problem, so Seeck. »Keine Baum­fällungen, ­keine Versiegelung und zum nächsten Schuljahr fertig.« Neu ist die Idee nicht. Die Bezirksvertretung Innenstadt hatte den Standort bereits für ein Interim mehrerer Grundschulen ins Spiel gebracht, doch schon damals lehnte die Verwaltung ab.

»Der Bau von Gesamtschulen muss vorgezogen werden«, sagen auch Anne Ratzki und Klaus Minartz von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Köln. »Die Stadt igno­riert seit Jahren den Elternwillen und nimmt Kindern Chancen auf eine bessere Schulbildung und fürs Leben.« In einer Er­hebung aus dem Jahr 2020 zur Grundschulempfehlung von Abiturienten an Gesamt­schulen stellte sich heraus, dass 71 Prozent keine Gymnasialempfehlung hatten. Bei Kindern in prekären Lebenssituationen waren es sogar 81 Prozent. »Durch die Zeit und die Förderung, die sie an den Gesamtschulen erhielten, konnten sie ihre Fähigkeiten optimal entwickeln«, sagt Klaus Minartz.

Immer wieder gibt es Ideen, kurzfristig Plätze zu schaffen, etwa, indem man Haupt- oder Realschulen, die nur noch wenig Zulauf haben, in Gesamtschulen umwidmet. So setzen sich SPD und Linke zusammen mit der GEW seit Monaten dafür ein, die Kurt-Tuchol­sky-Hauptschule in Neubrück in eine Gesamtschule umzuwandeln. Im vergangenen Jahr haben sich an der Hauptschule nur rund 30 Schüler angemeldet. Die CDU sperrte sich aber, weil man für »Schulformwechsler« in Klasse 7 Plätze freihalten müsse — ohne freilich auf das Argument einzugehen, dass ein Wechseln von Schulformen obsolet wäre, wenn es mehr Gesamtschulen gäbe. Denn dort werden alle Schulabschlüsse angeboten.

Auf solche Feinheiten kann der Kölner Schuldezernent Robert Voigtsberger (SPD) zurzeit nicht eingehen. Er sei »beschämt« über das Schulchaos, sagte er Ende März im Schulausschuss, während vor dem Rathaus Schüler und Eltern demonstrierten. Die Situation sei »unerträglich«. Und dann führte auch Voigtsberger Gründe auf, warum der Schulbau zu oft eben doch nicht an höchster Stelle stehe. Als es darum ging, ob und womit die wenigen zur Verfügung stehenden Flächen in der Stadt bebaut werden könnten, seien in den vergangenen Jahren etwa eine Hundewiese, ein paar Bäume oder der einträgliche Wohnungsbau durch Investoren für wichtiger befunden worden. »Der Schulbau ist zu oft an Einzelinteressen gescheitert«, so Voigtsberger. Ab sofort müsse in Köln der Grundsatz »Schulbau first« gelten. Er bat die anwesenden Schulpolitiker darum, entsprechend auf ihre Kollegen im Rat einzuwirken.

Für ein Gespräch mit der Stadtrevue stand Voigtsberger nicht zur Verfügung. In diesen Wochen läuft die zweite Anmelderunde, neun Gymnasien hatten Anfang April noch freie Plätze. Doch auch danach werden wohl noch hundert — nach Angaben der Stadt sind es 58 — Kinder ohne Schulplatz sein. Der Dezernent muss sehen, wie er sie versorgt bekommt. Während NRW-Schulministerin Yvonne ­Gebauer Ende März im Landtag noch davon ­redete, sie müssten sich halt im Umland nach Schulen umsehen, war davon beim »Schul-Gipfel« wenige Tage später mit OB Henriette Reker, Regierungspräsidentin Gisela Walsken und Schuldezernent Voigtsberger keine Rede mehr. Die Stadt werde alle Kinder mit Schulplätzen versorgen und »dafür die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen«, meldete eine Sprecherin. Die Bezirksregierung »begleitet dies konstruktiv« — dies kann man als Hinweis darauf lesen, dass nun doch weitere Mehr­klassen genehmigt werden, was die Aufsichtsbehörde — und auch die Schulen selbst — mit Hinweis etwa auf fehlende Fachräume abgelehnt hatten. Insgesamt wurden nun wohl neun Mehrklassen geschaffen, darunter zwei an katholischen Schulen. Offiziell bestätigt hat die Stadt dies nicht.

Schon seit Jahren stopft die Stadt nicht nur die Schulen so voll wie es nur geht, sondern auch die einzelnen Klassenräume. In Kölner Gymnasien sitzen stets 30 Kinder, an kleinen, dreizügigen sogar 31. Der Richtwert des Landes liegt jedoch bei 27 Kindern. Auch an Altbauten wie dem Schiller-Gymnasium, wo die Räume teils nicht größer als 50 oder 60 Quadratmeter sind, werden keine Ausnahmen gemacht. Die Kinder, die einen »großen Be­wegungsdrang« hätten, würden «regelrecht eingepfercht«, so Schulleiter Georg Scheferhoff. Köln steht damit beim sogenannten Klassen­frequenz­wert an der Spitze von NRW — und bewegt sich rechtlich in einem Graubereich.

Köln beruft sich auf ein Urteil, das die Belegung mit 30 beziehungsweise 31 Kindern für absolute Ausnahmefälle erlaubt. In Köln aber sei dies seit zehn Jahren die Regel und nicht die Ausnahme, erzählt ein anderer Schulleiter. »Im Einzelfall ist das keine große Sache. Aber in Köln geschieht dies systematisch, seit Jahren. Damit benachteiligt Köln seine Kinder im Vergleich zu anderen Kommunen in NRW.« Auch könne er keine geflüchteten Kinder aus den Sprachförderklassen in die regulären Klassen übernehmen, und seien sie noch so begabt und lernwillig. Es sei schlicht kein Stuhl mehr frei, sagt der Schulleiter, der nicht genannt werden möchte. »Wir haben keine pädagogischen Spielräume mehr.«

Und dann ist da noch die Raumnot durch die Mehrklassen. Lehrer müssen sich um Chemie- und Musikräume rangeln, manche Klassen absolvieren Sportstunden nur noch im Park, weil die Turnhalle dauerhaft belegt ist. »Es ist kein Drama, wenn Schüler fünfmal Biologieunterricht im Klassenraum haben«, sagt der Schulleiter, der anonym bleiben möchte. »Aber wenn man in der Oberstufe keinen Chemie­raum zur Verfügung hat, kann man die Kinder nicht ordentlich aufs Abitur vorbereiten.« Mehr Schüler pro Schule bedeuten auch, dass mehr Kinder die Toiletten benutzen, von denen viele noch dazu dringend saniert werden müssen. Seit Jahren ist der Zustand der Kölner Schultoiletten ein großer Aufreger. Eltern berichten, dass ihre Kinder den ganzen Tag nichts trinken, um bloß nicht die Schultoilette aufsuchen zu müssen. An vielen Schulen ­zahlen Eltern inzwischen einen monatlichen Extra-Beitrag, um private Reinigungsdienste anzuheuern.

Und mit den Mehrklassen wächst auch das Lehrerkollegium. Rund hundert Lehrerinnen und Lehrer arbeiten inzwischen am Gymna­sium Kreuzgasse, dessen Lehrerzimmer aber nur über 60 Plätze verfügt. Dort müsse man sich bei Konferenzen auf den Schoß nehmen, ist zu hören. Für die rund 60 Lehrerinnen stünden ganze zwei Damentoiletten zur Ver­fügung, die es innerhalb von 15-minütigen Pausen aufzusuchen gilt.

Trotz allem stimmen die Schulleiterinnen und Schulleiter der Bildung von Mehrklassen immer wieder zu. »Man sieht die Not auf der anderen Seite«, so Georg Scheferhoff vom Schiller-Gymnasium. Der Druck sei immens. »Vor zwei Jahren wurde mir die Bildung einer Mehrklasse mitgeteilt«, so Scheferhoff. In diesem Jahr ist es bei einer Verteilkonferenz offen­bar zum Eklat gekommen. Viele Schulleiterinnen und Schulleiter weigerten sich, das Spiel weiter mitzuspielen.

Konrad, der überall abgelehnte Viertklässler aus Klettenberg, hat sich inzwischen außerhalb von Köln umgesehen. In Hürth gibt es ein Gymnasium mit naturwissenschaftlichem Profil, das zu Konrad passt. Eine Lehrerin lud Konrad zum Gespräch ein. »Die Frau war richtig nett, hat mir zugehört und mich auch gefragt, was ich mir wünsche«, erzählt Konrad. »Das hat in Köln keiner gemacht.« Seine Mutter lässt derweil ihr Handy nicht aus den Augen, weil sie in den nächsten Tagen eine Entscheidung aus Hürth erwartet. »Nicht, dass ich den Anruf verpasse und dann der nächste in der Liste genommen wird.«

Die Mutter von Elikia aus Porz-Ensen berichtet, dass mindestens zwei Kinder aus ihrem Viertel nun am erzbischöflichen Ursulinen-Gymnasium angemeldet sind. Sie pendeln bald täglich von Porz in die Innenstadt, dafür haben sie den Platz nun sicher. »Die Unsicherheit macht einen sonst wahnsinnig.« Elikia und ihre Freundin wiederum haben sich inzwischen an einem Gymnasium in Siegburg angemeldet. Der Schulweg mit S-Bahn-Fahrt dauert 45 Minuten, von Tür zu Tür. Ein langer Weg, und doch seien sie froh über die Entscheidung, berichtet Elikias Mutter. Ihre Tochter könne an der Siegburger Schule später den deutsch-französischen Zweig besuchen. In den Klassen dort säßen nur 25 bis 26 Kinder — Verhältnisse, von denen Kinder in Köln nur träumen können. »Wir wurden in Siegburg sehr herzlich aufgenommen.«