Weder Verdi noch Wagner
Es scheint eine einfache Frage zu sein, für deren Beantwortung aber keiner der befragten Experten Worte findet: Wovon handelt »Licht«, diese megaloman anmutende Oper von Karlheinz Stockhausen, an der er über ein Vierteljahrhundert gearbeitet hat und die nicht nur mit ihren 29 Stunden Aufführungsdauer einzigartig dasteht in der Operngeschichte? Deren Realisierung nach 500 Sängern und Tänzern sowie vier Hubschraubern verlangt, in denen Violinistinnen zum Geknatter der Rotoren Stockhausens »Helikopter Streichquartett« zum Besten geben. Die noch nie eine vollständige Aufführung erlebte, weil sie allein aus logistischen und finanziellen Gründen als unrealisierbar gilt.
»Eine komplexe Frage«, versucht Stockhausens Sohn Markus Zeit zu gewinnen, und Opernregisseur Pierre Audi weiß nur, was »Licht« nicht sei — weder Verdi noch Wagner. Andere versuchen sich mit figürlichen Beschreibungen: Vertikal, dann aber auch horizontal sei das zwischen 1977 und 2003 entstandene Werk, erklärt der Kostümgestalter der niederländischen Nationaloper. Spiralförmig sei »Licht«, versichern hingegen Stephanie Stephens-Janning und Kathinka Pasveer. Die beiden Frauen verwalten den Nachlass des 2007 verstorbenen Komponisten aus Kürten, den sie gleichermaßen künstlerisch und als langjährige Geliebte begleiteten.
Also versucht die niederländische Regisseurin Oeke Hoogendijk eine filmische Annäherung an dieses kaum zu fassende Opus magnum, das im Untertitel »Die sieben Tage der Woche heißt«, und an dessen Schöpfer. Sie begleitet zunächst die dreitägige Teil-Realisierung im Jahr 2019 in einem ehemaligen Gasometer in Amsterdam, um sich dann dem schillernden und nicht unumstrittenen Komponisten zu nähern. Zu Wort kommen die nicht wenigen Frauen in Stockhausens Leben, die ihm mitunter in Dreiecksbeziehungen verbunden waren.Stockhausens Söhne und Töchter berichten von schmerzhaften Kontaktabbrüchen durch den Vater, der die Menschen in seinem Umfeld nicht nur musikalisch zu instrumentalisieren versuchte. Er habe großartige Kunst geschaffen, sagt seine Tochter Julika einmal, er hätte aber keine Kinder in die Welt setzen sollen.
Hoogendijks grandioser Dokumentarfilm schafft es mit dieser raffinierten Konstruktion, den Komponisten über sein Werk zu erklären und dann umgekehrt, dass die Zuschauenden am Ende befähigt sind, Antworten zu finden auf die eingangs gestellte Frage.
»Licht« ist ein Höhepunkt des Kölner Musikfilmfestivals See the Sound, das sich vom 8. bis 12. Juni genreübergreifend der Begegnung von bewegtem Bild und Musik und Ton verschreibt. Die Reihe »Hybrid Realities« verschafft dabei einen Einblick in die Möglichkeiten der Vermischung von Dokumentarischem und Fiktionalem mit Filmen wie dem vielfach ausgezeichneten »I Get Knocked Down«, der die »unerzählte Geschichte« von Chumbawamba erzählt, beziehungsweise dessen Sänger Dunstan Bruce erzählen lässt. Die Reihe »Transgressive Sounds« widmet sich Klängen, die, wie die Festivalmacher es formulieren, »mit postkolonialer Stoßrichtung geografische sowie diskursive Grenzen überschreiten«, während die Reihe »A Life in Music« dokumentarischen Biopics gewidmet ist, etwa dem Sänger und Produzenten Moby (»Moby Doc«), der australischen Country-Sängerin Wanita Bahtiyar (»I’m Wanita«) oder dem jamaikanisch-amerikanischen Rapper Bushwick Bill (»Bushwick Bill — Geto Boy«).
Auf dem Festival sind auch in diesem Jahr wieder zahlreiche deutsche Premieren zu erleben wie der im Wettbewerb laufende US-amerikanische Dokumentarfilm »The Computer Accent« von Sebastian Pardo und Riel Roch Decter. Der Film zeigt den Versuch des Dance-Pop-Trios YACHT, Songs zusammen mit Künstlicher Intelligenz zu schreiben. Während »Licht« auch die Frage behandelt, welchen Stellenwert Werktreue hat, auf die Stockhausens Nachlassverwalterinnen höchsten Wert legen und die sie immer wieder erbittert verteidigen, gibt die in Los Angeles beheimatete Band um Frontfrau Claire L. Evans ihr Songwriting aus freien Stücken an K.I., Interfaces und Algorithmen ab. So wird der Back Catalogue von YACHT von einer darauf spezialisierten Firma in Daten gewandelt, dann werden die Rechner mit Lyrics gefüttert aus Songs von Nirvana, Sparks, New Order und anderen Artists, auf die sich die Band seit ihrer Gründung bezieht.
Künstliche Intelligenz als viertes Bandmitglied lässt sich nicht ohne weiteres integrieren. Die Chemie stimmt einfach nicht, menschlich gesehen
Auf der Leinwand erscheinen die Interfaces der Computerprogramme, die daraus Songs generieren, die, so die Vorstellung der Band, am Ende live und mit echten Instrumenten spielbar sein sollen. Ein Arbeitsprozess, der die Musiker immer wieder frustriert. Nach der anfänglichen Euphorie über die neuen technologischen Möglichkeiten zeigt sich schon bald, dass K.I. sich nicht ohne weiteres als viertes Bandmitglied integrieren lässt. Die Chemie stimmt einfach nicht, menschlich gesehen.
Ebenfalls im Wettbewerb: »Charli XCX: Alone Together«. Auch die Regisseure Bradley Bell und Pablo Jones-Soler zeigen eine Künstlerin auf der Suche nach anderen Wegen zu neuen Inspirationen. Mit Beginn der Corona-Pandemie gerät die 29-jährige Sängerin und Songwriterin Charli XCX in eine schwere Krise. Die Einsamkeit in der Selbstisolation macht der international erfolgreichen Popmusikerin zu schaffen, und über ihre Kanäle im Netz weiß sie, dass es ihren Fans, sehr viele in der LBGTQ-Szene, nicht anders geht. Daraus entsteht »Alone Together«: Charli XCX lädt ihre Fans ein, den kreativen Prozess des nächsten Albums nicht nur in Echtzeit im Internet zu verfolgen, sondern mitzugestalten. In ihrem Haus in L.A. sitzend veranstaltet sie Zoom-Meetings, kommuniziert via Twitter und Instagram, stellt Zwischenergebnisse bei YouTube ein. Und sie öffnet sich, breitet Probleme in ihrer Beziehung, ihre Ängste und psychischen Probleme vor ihren jungen Fans aus, die darauf mit textlichen Ideen und musikalischen Anregungen reagieren. Charli XCX hat »Alone Together« mitproduziert, eine ungebrochene Huldigung ist der Film dennoch nicht geworden, auch weil der Popstar keine Hochglanzbilder bekommt, sondern der Film fast durchgängig aus wackeligen, bisweilen unscharfen und anstrengenden Aufnahmen mit der Smartphone- oder Computerkamera besteht.
Wer »Alone Together« neben »Licht« und »The Computer Accent« schaut, kann die Festivalabende mit vortrefflichen Erörterungen ausklingen lassen über den Geniebegriff, über Möglichkeiten und Limits neuer Technologien für Songs und deren Schöpfer, über Wechselwirkungen zwischen Star und Nutzer. So ist See the Sound mehr als die Summe sehenswerter Filme über Musik.
Infos: seethesound.de