Berechtigte Sorge
»Was wird aus unserem unabhängigen Autorenfilm unter der Raisi-Regierung?« Diese schicksalhafte Frage kursierte in den sozialen Netzwerken, nachdem der 60-jährige ultrakonservative Ebrahim Raisi im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahl im Iran gewonnen hatte. Die Sorgen der iranischen Filmemacher*innen stellten sich als berechtigt heraus, als Raisi unmittelbar nach seiner Vereidigung den Hardliner Mohammad Mehdi Esmaili zum Minister für Kultur und islamische Führung ernannte und seinerseits mit der Umstrukturierung der Filmindustrie Irans, unter anderem der Farabi Cinema Foundation, begann. Die Stiftung ist zwar offiziell eine NGO, fungiert aber wie eine ambitiöse Abteilung des Ministeriums, die besonders das Kino der Islamischen Republik im Ausland zur Schau stellt.
Obwohl es noch zu früh ist, die Zukunft des weltweit hoch geachteten iranischen Films vorherzusagen, steht eines schon fest: Die Filmindustrie Irans soll nach dem Willen von Raisi & Co. grundlegend »islamisch« werden. Die Hauptaufgabe aller Filmemacher*innen muss demnach »Stärkung und Wiederaufbau des revolutionären und religiösen Kinos« sein, so Esmaili. Darüber hinaus müssen sie bei der Personalbesetzung auf das »revolutionäre Humankapital« achten, also regierungstreue Filmschaffende einsetzen, und dafür sorgen, dass die Filme »basierend auf den Werten der Islamischen Revolution« gedreht werden.
Selbstverständlich profitieren von solchen restriktiven Regeln nur Regisseur*innen, die regimekonforme Filme produzieren. Sie behandeln meist Themen wie die Islamische Revolution von 1979 oder den Ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak (1980–1988). Ihre Protagonist*innen sind meist gläubige Menschen, die alles für den Sieg der Revolution und der islamischen Ideale opfern und am Ende stolz und glücklich als Märtyrer im Paradies landen. Filmemacher*innen, die in ihren Werken dennoch sozialkritische Stoffe thematisieren, müssen vorsichtig sein: Sie dürfen keine explizite Kritik an der Revolution, der Regierung oder am islamisch-staatlichen Wertesystem üben. »Problematische« Themen wie Kopftuchpflicht, Menschenrechtsverletzungen, Sex vor der Ehe, Homosexualität, Atomabkommen dürfen zwar behandelt, aber die vom Regime festgelegten roten Linien dabei nicht überschritten werden.
Unter diesen Umständen kreativ zu arbeiten, ist weder für Regisseure noch für Regisseurinnen leicht. Doch die Filmemacherinnen leiden doppelt, wie sie in der Anfang April veröffentlichten »Erklärung gegen sexuelle Gewalt in der Filmbranche« dokumentiert haben. Denn sie sind unter Umständen nicht nur den Sanktionen der islamischen Regierung ausgesetzt, sondern auch verschiedenen Formen sexueller Gewalt seitens ihrer Kollegen. Laut der Erklärung sind in den vergangenen Jahren mehrfach offensichtliche Fälle von sexualisierter Belästigung und Gewalt in der iranischen Filmindustrie ignoriert worden.
Mittlerweile haben mehr als 800 weibliche Filmschaffende die Erklärung unterschrieben, unter anderem Pegah Ahangarani, eine populäre Schauspielerin, die seit kurzem auch Regie führt.
Ahangarani gehört zu einer neuen Generation von Filmschaffenden, deren Filme sich in Inhalt und Form von denen der vorherigen stark unterscheiden. Während die vorige Generation eher gesellschaftliche Probleme thematisiert hat, reflektiert die neue Generation vornehmlich die Anforderungen, Hindernisse und Fragen, die im privaten Bereich entstehen.
Ahangaranis Kurzfilm »I Am Trying to Remember«, der im Mai auf dem iranischen Filmfestival Visions of Iran gezeigt wird, zusätzlich zu einem Programm mit Kurzfilmen ausschließlich von Regisseurinnen, verbindet diese zwei Welten miteinander. Mit Hilfe von alten Fotos, Videos, Text- und Klangcollagen wird von den bitteren Schicksalen der mehr als viertausend Dissident*innen erzählt, die 1988 im Iran hingerichtet wurden. Damals fungierte der heutige Präsident Raisi als verantwortlicher Staatsanwalt.
Infos: iranian-filmfestival.com