Die pandemische Ungleichheit

Vor dem Virus sind manche Menschen gleicher als andere. Die Covid-19-­Pandemie hat bestehende Benachteiligungen und den Gegensatz von Arm und Reich verschärft.

Es ist sicher verfrüht, die Covid-19-Pandemie für beendet zu erklären. Man kann jedoch durchaus eine vorläufige Bilanz ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ziehen. Wer die soziale Ungleichheit — wie ich das tue — für das Kardinalproblem der Bundesrepublik hält, muss dabei sein Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der Verteilungsverhältnisse richten.

Wie in vielen anderen Teilen der Welt hat sich die Einkommens- und Vermögensungleichheit während der Pandemie hierzulande verschärft. Auch wenn eine Studie der internationalen Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam mit dem Titel »Das Ungleichheitsvirus« dies nahelegt, ist dafür allerdings nicht SARS-CoV-2 verantwortlich. Vor dem neuartigen Coronavirus sind, was seine Infektiosität betrifft, vielmehr alle gleich. Nur weil sich deren Gesundheitszustand, Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse zum Teil stark voneinander unterscheiden, sind auch die Infektionsrisiken sehr ungleich auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen verteilt. Ungerecht ist also gar nicht das Virus, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es trifft. Die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen haben bewirkt, dass SARS-CoV-2 bzw. Covid-19 den Trend zur sozioökonomischen Polarisierung verstärkt.

Von der Pandemie am stärksten betroffen waren die Immun- und die Finanzschwächsten — zwei Gruppen, die sich personell nicht zufällig überlappen. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Asthma, Adipositas (Fettleibigkeit), Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) oder COPD (Raucherlunge), katastrophale Arbeitsbedingungen etwa in der Fleischindustrie sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion und einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. Hauptleidtragende, weil überwiegend einkommens- und immunschwach, waren die Wohnungs- und Obdachlosen. Mittlerweile haben in Köln mehr als 7000 Menschen weder Wohneigentum noch einen Mietvertrag; mehr als 300 Personen leben sogar auf den Straßen unserer Stadt und schlafen draußen. Ähnlich hart traf das Virus (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeiter*innen, nichtdeutsche Saisonarbeiter*innen, Geflüchtete, Migrant*innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Strafgefangene, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Kleinstrentner*innen sowie Bezieher*innen von Sozialhilfe, Grund­­­­sicherung oder Asylbewerberleistungen.


Ungerecht ist nicht das Virus, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es trifft

Zu den Hauptleidtragenden der Covid-19-Pandemie gehörten auch die Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Sie waren besonders häufig von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und den damit verbundenen Einkommensverlusten betroffen. Die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch Konkurse und Entlassungen zur Folge. Studierende, die mit ihrem regulären BAföG-Satz nicht auskamen und von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können), verloren häufig ihren Nebenjob, etwa in der Gastronomie. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld beantragen konnten, kam es zu Studienabbrüchen.

Zu den Hauptprofiteuren des Krisendesasters gehörten einige der kapitalkräftigsten Unternehmen mit den reichsten Eigentümern. Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und Arbeitslosigkeit geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die Besitzer solcher Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, ­Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das die Welt am Sonntag auf 41,8 Milliarden Euro taxierte, laut dem US-Wirtschaftsmagazin Forbes während der Pandemie um 7,5 Milliarden Dollar gesteigert. Viele kleine Einzelhändler*innen haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kundschaft hingegen ihre Existenzgrundlage verloren.

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise hohe Geldbeträge für direkte Finanzhilfen, Bürgschaf­ten und Kredite bereitgestellt, die hauptsächlich den ­Unternehmen — auch und gerade Konzernen wie der Lufthansa, dem Reiseanbieter TUI oder Galeria Karstadt Kauf­hof — zugutekamen. Sozial benachteiligte Personengruppen wie Hartz-IV-Bezieher*innen und Kleinstrentner*innen wurden hingegen — wenn überhaupt — nur am Rande berücksichtigt. Zum 1. Januar 2022 stiegen die Regelbedarfe in der Grundsicherung auch der Kinder und Jugendlichen trotz einer sich nicht erst während des Ukrainekrieges abzeichnenden Teuerungswelle bei Nahrungs­mitteln und Haushaltsenergie um weniger als ein Prozent.

Selbst die »Sozialschutz-Pakete« der Großen Koalition wiesen eine verteilungspolitische Schieflage auf. Während der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Coronakrise geschädigte Soloselbstständige erleichtert wurde, indem man die strenge Vermögensprüfung für sie ­vorübergehend aussetzte und ein halbes Jahr lang die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte, gab es für langjährige Hartz-IV-Bezieher*innen selbst dann keinen Ernährungszuschlag, wenn ihre Kinder während der Kita- und Schulschließungen zuhause verpflegt werden mussten, anstatt wie sonst kostenfrei die Gemeinschaftsverpflegung in einer Betreuungseinrichtung zu nutzen. So hat der Staat mit dazu beigetragen, in der Pandemie die Ungleichheit noch zu verschärfen.