Virtuell flanieren
»No Way Home« heißt passenderweise der Spider-Man-Film, der trotz Pandemie die Menschen im letzten Winter zurück in die Kinos holte. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass nach zwei Jahren Kontaktbeschränkungen und Home Office das Publikum im Kino so weit wie möglich aus seinem Alltag herausgeschleudert werden will — ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg der Heimatfilm-Boom die Sehnsucht der Deutschen nach heiler Welt bediente. Näher an der Realität gebaute, intimere Geschichten will momentan niemand sehen, so lassen sich zumindest die Besucherzahlen an den Kinokassen deuten. Das macht eine filmische Auseinandersetzung mit unserer bisweilen surreal anmutenden Gegenwart aber natürlich nicht weniger wichtig.
»Post Cinema in Times of Corona« hieß ein Seminar, das die Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM) in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen im Sommersemester 2020 begonnen hat. Ziel des Seminars war es, kurze Home Movies aus dem Lockdown zu konzipieren und produzieren mit dem Thema: »Life and Boredom in Times of #CoronaVirus«. Dabei sollte lediglich bereits bei den Studierenden vorhandene Technik eingesetzt werden wie Smartphones, Amateur-Digitalkameras und freie Software. Der kreative Umgang mit beschränkten Mitteln war also eines der Lernziele des Seminars unter der Leitung von Melissa de Raaf und Marcel Kolvenbach von der KHM und Peter Vignold von der RUB. Eine Handvoll der entstandenen Videos werden nun zum Auftakt der Kölner Kino Nächte in der Filmpalette präsentiert.
Den Lockdown-Ennui fängt Sandra Riedmairs und Fabian Angers »Flâneuse« mit eindrücklichen Bildern ein. Der Kurzfilm beginnt mit einer Fahrt durch den Kölner Gereonswall, den die Protagonistin vom heimischen Tisch aus unternimmt. Mit einem Glas Sekt in der Hand klickt sie sich auf dem Laptop durch Googles Streetview. Sie folgt mit ihrer Maus einem Radfahrer im gestreiften Pulli, der aber an der Kreuzung zur Von-Werth-Straße plötzlich verschwindet.
In der nächsten Sequenz streift die Flâneuse ganz real durch die Stadt: Unscharf hasten maskierte Shopper in einer Fußgängerzone an ihr vorbei, im Schaufenster eines Reisebüros steht zu lesen: »Die große Freiheit: Flexibel wie eine Jacht.« Sie zieht ihre Schuhe aus, geht auf Socken weiter, und die Welt um sie herum verstummt — bis die Flâneuse plötzlich auf einem Friedhof zwischen den Gräbern liegend aufwacht. Sie lässt sich eine Pizza an den Friedhofseingang bringen, die sie allein und schweigend verspeist. Am Ende sitzt sie wieder vor dem heimischen Laptop und flaniert per Streetview. Ein Austausch mit anderen Menschen hat nicht stattgefunden.
Nach zwei Jahren Kontaktbeschränkungen und Home Office will das Publikum im Kino so weit wie möglich aus seinem Alltag herausgeschleudert werden
Das scheint zunächst bei Elinor Hasselbergs »Wasteland« anders zu sein. Zu sehen ist den Film hindurch nur die Oberfläche einer Videokonferenz-Software. Drei Männer und zwei Frauen scheinen sich virtuell zu unterhalten, doch mit der Zeit wird klar, dass sie alle nur monologisieren. Sie schauen sich dabei die meiste Zeit nicht einmal an, sondern haben die Augen geschlossen, als müssten sie sich sehr konzentrieren oder lange zurückliegende Erinnerungen wachrufen.
Wir sind es (mittlerweile) gewohnt, die Benutzeroberfläche einer Videochat-Software mit zeitlicher Linearität zu verbinden. Wenn diese wie in »Wasteland« aufgehoben scheint, verunsichert das. Dabei gehört die Tatsache, dass in einem Film zwei Einstellungen nicht zeitlich nahtlos aufeinander folgen müssen, seit über hundert Jahren zur Basis-Grammatik des Mediums. »O.T.« lädt zum Nachdenken darüber ein, wie die Pandemie Mediennutzungen und -wahrnehmungen verändert hat.
Valerie-Malin Schmids Dokumentarfilm »Stille.n« scheint dagegen zunächst einmal alles andere als mit der pandemischen Gegenwart befasst zu sein. Der Film beobachtet die junge Mutter Laurence und ihre eineinhalbjährige Tochter Umae in einer hippiesken Bauernhof-Kommune irgendwo auf dem Land in Frankreich. Das Setting scheint idyllisch, die Bedingungen ideal für das Aufwachsen eines Kindes. Doch es verdichten sich Hinweise, dass nicht alles glatt läuft: Laurence weint, als es in einer Besprechung der Kommune um den Umgang mit dem Kind in der Gemeinschaft geht, und eingeschobene fiktionale Sequenzen zeigen Fantasien der Mutter, in denen sie — so kann man es interpretieren — von ihren Verantwortungen befreit ist. Was das Problem ist, wird erst über Texteinblendungen am Ende ganz deutlich.
An einer Stelle hört man in »Stille.n« einen Radiobeitrag, in dem verkündet wird, dass ab Montag Kindergärten, Schulen und Universitäten in Frankreich geschlossen werden. Das ist die einzige Erinnerung an die Corona-Krise, die auch eher wie ein nachträglich auf der Tonspur eingefügter Zeitstempel wirkt. Die Aktualität von »Stille.n« liegt eher darin, dass er eine Gegenbewegung zur in »Flâneuse« und »Wasteland« gezeigten Virtualisierung und Individualisierung unseres Alltags zeigt, die durch die Pandemie noch verstärkt und beschleunigt wurden. Diese drei Home Movies könnten kaum unterschiedlicher sein — und doch zeigen sie zwei Seiten der gleichen Gegenwart.
14. Kölner Kino Nächte
Ungefähr ein Dutzend Previews bilden das Herz der diesjährigen Kinonächte. Vor ihrem Kinostart können viele Filme gesehen werden, die hier auf den folgenden Seiten besprochen werden, darunter unser Film des Monats »Corsage« (siehe S. 61). Sehr empfehlenswert ist auch der Dokumentarfilm »Liebe, D-Mark und Tod«, der einen regulären Starttermin erst Ende September hat. Regisseur Cem Kaya erzählt darin die Geschichte der Popmusik der so genannten Gastarbeiter aus der Türkei und ihrer Kinder — eine Geschichte, in der Köln in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle spielt. Der Regisseur und einige der Stars seines Films werden anwesend sein.
Wer es exklusiver will, findet auch einige Filme im Programm, die sicherlich nur dieses eine Mal in Köln zu sehen sein werden, etwa das in Sundance gefeierte Familiendrama »Mars One« des brasilianischen Regisseurs Gabriel Martins oder den ukrainischen Jugendfilm »Stop Zemlia«, der letztes Jahr im Programm der Berlinale zu finden war. Mehr zu den filmhistorischen Perlen der Kino Nächte auf Seite 59.
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der 40 Filme, die an 16 Orten gezeigt werden. Dieses Jahr gibt es auch wieder einen Festivalpass für das viertägige Programm, der mit 20 Euro gewohnt fair bepreist ist.
Do 30.6.–So 3.7., Infos: koelner-kino-naechte.de/2022