Betreuung am Nachmittag? Pusteblume!, Foto: Pexels

Ganztag ja, aber nicht für alle

Jedes Grundschulkind hat bald Anspruch auf einen Platz in der Ganztagsbetreuung. Doch eine Studie schlägt Alarm

Lärm und Trubel am Eingang der Freinet Schule in Köln: Es ist Abholzeit, also 16 Uhr nachmittags, und mit Schulranzen und Fahrrad­­helmen stürmen die Kinder der Grundschule an die frische Luft. Hier hat jedes Kind einen Platz in der Nachmittagsbetreuung, sozusagen qua Anmeldung pro Schulplatz, denn die Freinet Grundschule im Neubau am Rande des Klingel­pützparks ist eine Ganz­tags­­schule. Die Lernzeiten, in denen die Kinder selbständig ihre Aufgaben im Schulheft erledigen, finden hier auch mal nachmittags statt — und kein Elternteil braucht sich zu sorgen, wo es das Kind während der eigenen Arbeitszeiten unterbringt. Ein Luxus, denn in Sachen Nachmittagsbetreuung sind die Pro­gno­sen an vielen Grund­schu­len in Nordrhein-Westfalen düster, wie eine im Juli veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung nun ­einmal mehr zeigt.

»Der Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022« lautet der Titel der Studie. Untersucht haben die Expert*innen darin, wie der von Bund und Ländern garantierte Anspruch auf ganztägige Förderung und Betreuung für Grundschulkinder ab 2026 eigentlich umgesetzt werden kann. Was ­bedeutet der Rechtsanspruch für die Fachkräftesituation der Bundesländer? Welche Handlungs­optio­nen gibt es, und wie sieht der Handlungsbedarf bezüglich der Personalausstattung von Kindern im Grundschulalter aus? Im September 2021 hatten Bund und Länder gemeinsam einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen, der schrittweise eingeführt wird. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift die Regelung bei Kindern der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Klassen. Aber funktioniert das auch wie ­geplant?

Fast die Hälfte aller Grund­schul­kinder nutzen in Nordrhein-Westfalen zur Zeit ein Ganztagsangebot. Weitere 19 Prozent besuchen ein »Übermittagsangebot«, Abholzeit ist dort um 14.30 Uhr. Doch folgt man den Ergebnissen der Bertelsmann-Studie fehlen in NRW tausende Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen um bis Ende des Jahrzehnts allen Grundschulkindern den gesetzlich garantierten Ganztagsplatz auch wirklich anbieten zu können. »NRW kann die Umsetzung des Rechtsanspruchs nicht für alle Kinder bis 2030 stemmen, denn der Fachkräftebedarf ist bis dahin kaum zu decken«, sagte auch Kathrin Bock-Famulla, Haupt­autorin der Studie.

Keine guten Aussichten, dabei wurden im »Fachkräfte-Radar« ­sogar verschiedene Szenarien für die Zukunft durchgespielt: Um bis Ende des Jahrzehnts allen Grundschulkindern einen Ganztagsplatz bieten zu können, fehlen gut 260.000 Plätze und 17.000 Fachkräfte. Würde man nur die heutige Quote der ostdeutschen Bundesländer — wo mehr als vier von fünf Kindern Ganztagsbetreuung bekommen — anpeilen, wären es noch 13.000 Fachkräfte. Und selbst dann, wenn ein Teil der Kinder weiterhin die kürzere Übermittags­betreuung in Anspruch nehmen würde, wären es immer noch rund 7.000 fehlende Fachkräfte zur ­Betreuung.


In Sachen Nachmittags­betreuung sind die Pro­gno­sen an vielen Grund­schu­len in NRW düster

Laut Prognose kommen aber bis 2030 nur um die 3.000 neue Fachkräfte dazu. »Die Bundesländer müssen gemeinsam mit allen Verantwortlichen schon jetzt differenzierte Maßnahmen ergreifen, um dem steigenden Personalmangel in Grundschulen und Horten vorzubeugen«, sagt daher Anette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung. Also eine langfristig angelegte Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern: Es müssen genügend Ausbildungskapazitäten geschaffen werden — und Anreize für den Einstieg in dieses Berufsfeld. Denn nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung sind weniger die finanziellen Mittel, sondern die fehlenden Mitarbeiter*innen die zentrale Herausforderung, um jedem Kind den gesetzlich garantierten Platz in der Nachmittagsbetreuung zu ermöglichen. Bis ­dahin heißt es wohl weiterhin erst einmal Ruhe bewahren, bis die Bescheide über einen Platz in der Ganztagsbetreuung des Kindes im Briefkasten landen. Angesichts dessen, dass seit Jahren auf das Problem aufmerksam gemacht wird, und die Entwicklungen hin zu einem gerechten Bildungssystem für alle Kinder im bevölkerungsreichsten Bundesland immer noch schleppend verlaufen, ist das allerdings viel verlangt.