Ganztag ja, aber nicht für alle
Lärm und Trubel am Eingang der Freinet Schule in Köln: Es ist Abholzeit, also 16 Uhr nachmittags, und mit Schulranzen und Fahrradhelmen stürmen die Kinder der Grundschule an die frische Luft. Hier hat jedes Kind einen Platz in der Nachmittagsbetreuung, sozusagen qua Anmeldung pro Schulplatz, denn die Freinet Grundschule im Neubau am Rande des Klingelpützparks ist eine Ganztagsschule. Die Lernzeiten, in denen die Kinder selbständig ihre Aufgaben im Schulheft erledigen, finden hier auch mal nachmittags statt — und kein Elternteil braucht sich zu sorgen, wo es das Kind während der eigenen Arbeitszeiten unterbringt. Ein Luxus, denn in Sachen Nachmittagsbetreuung sind die Prognosen an vielen Grundschulen in Nordrhein-Westfalen düster, wie eine im Juli veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung nun einmal mehr zeigt.
»Der Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2022« lautet der Titel der Studie. Untersucht haben die Expert*innen darin, wie der von Bund und Ländern garantierte Anspruch auf ganztägige Förderung und Betreuung für Grundschulkinder ab 2026 eigentlich umgesetzt werden kann. Was bedeutet der Rechtsanspruch für die Fachkräftesituation der Bundesländer? Welche Handlungsoptionen gibt es, und wie sieht der Handlungsbedarf bezüglich der Personalausstattung von Kindern im Grundschulalter aus? Im September 2021 hatten Bund und Länder gemeinsam einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen, der schrittweise eingeführt wird. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift die Regelung bei Kindern der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Klassen. Aber funktioniert das auch wie geplant?
Fast die Hälfte aller Grundschulkinder nutzen in Nordrhein-Westfalen zur Zeit ein Ganztagsangebot. Weitere 19 Prozent besuchen ein »Übermittagsangebot«, Abholzeit ist dort um 14.30 Uhr. Doch folgt man den Ergebnissen der Bertelsmann-Studie fehlen in NRW tausende Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen um bis Ende des Jahrzehnts allen Grundschulkindern den gesetzlich garantierten Ganztagsplatz auch wirklich anbieten zu können. »NRW kann die Umsetzung des Rechtsanspruchs nicht für alle Kinder bis 2030 stemmen, denn der Fachkräftebedarf ist bis dahin kaum zu decken«, sagte auch Kathrin Bock-Famulla, Hauptautorin der Studie.
Keine guten Aussichten, dabei wurden im »Fachkräfte-Radar« sogar verschiedene Szenarien für die Zukunft durchgespielt: Um bis Ende des Jahrzehnts allen Grundschulkindern einen Ganztagsplatz bieten zu können, fehlen gut 260.000 Plätze und 17.000 Fachkräfte. Würde man nur die heutige Quote der ostdeutschen Bundesländer — wo mehr als vier von fünf Kindern Ganztagsbetreuung bekommen — anpeilen, wären es noch 13.000 Fachkräfte. Und selbst dann, wenn ein Teil der Kinder weiterhin die kürzere Übermittagsbetreuung in Anspruch nehmen würde, wären es immer noch rund 7.000 fehlende Fachkräfte zur Betreuung.
In Sachen Nachmittagsbetreuung sind die Prognosen an vielen Grundschulen in NRW düster
Laut Prognose kommen aber bis 2030 nur um die 3.000 neue Fachkräfte dazu. »Die Bundesländer müssen gemeinsam mit allen Verantwortlichen schon jetzt differenzierte Maßnahmen ergreifen, um dem steigenden Personalmangel in Grundschulen und Horten vorzubeugen«, sagt daher Anette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung. Also eine langfristig angelegte Fachkräfteoffensive von Bund und Ländern: Es müssen genügend Ausbildungskapazitäten geschaffen werden — und Anreize für den Einstieg in dieses Berufsfeld. Denn nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung sind weniger die finanziellen Mittel, sondern die fehlenden Mitarbeiter*innen die zentrale Herausforderung, um jedem Kind den gesetzlich garantierten Platz in der Nachmittagsbetreuung zu ermöglichen. Bis dahin heißt es wohl weiterhin erst einmal Ruhe bewahren, bis die Bescheide über einen Platz in der Ganztagsbetreuung des Kindes im Briefkasten landen. Angesichts dessen, dass seit Jahren auf das Problem aufmerksam gemacht wird, und die Entwicklungen hin zu einem gerechten Bildungssystem für alle Kinder im bevölkerungsreichsten Bundesland immer noch schleppend verlaufen, ist das allerdings viel verlangt.