Einfach nichts tun
Zeit ist ein dehnbarer Begriff, sie ist eine messbare physikalische Größe, genauso wie ein subjektives Empfinden. Franziska Josefin Kummert ist gerade 27 geworden und hat Zeit. Mehr Zeit für sich, weil sie sich von ihrem Freund Cyril getrennt hat. Nach zwei Jahren kehrt sie aus Paris zurück und stellt fest, dass sich etwas verändert hat: ihre Freund*innen, ihr Weltbild oder sie selbst — Franziska weiß es nicht genau. Doch irgendetwas von ihrem vorherigen Leben ist zurückgeblieben. »Vermutlich werde ich nie wieder so viel freie Zeit haben wie jetzt, dachte Franziska und zog an ihrer Zigarette, die wieder ausgegangen war.« Die Kölner Autorin Carla Kaspari hat mit ihrem Romandebüt »Freizeit« ein pointiertes Portrait unserer Gegenwart geschrieben. Lakonisch erzählt sie vom Verlust der Unbefangenheit, und von der Illusion eines durch Selbstverwirklichung zufriedenstellenden Lebens.
Denn äußerlich hat Kasparis Protagonistin Franziska alles: ein abgeschlossenes Studium, einen soliden Job als Werbetexterin und ein gefestigtes soziales Netzwerk — trotzdem fehlt es ihrem Leben an Bedeutung. Für ihre Arbeit schreibt sie die Autobiografie einer Motivationstrainerin, in ihrer Freizeit verfolgt sie zur Entspannung den unaufgeregten Alltag eines Youtube-Pärchens. »Sie war eine weiße deutsche Frau, die von ihren Eltern geliebt wurde, und war damit viel zu gut weggekommen, um ihre eigene Identität zu politisieren«, heißt es im Roman. Während Franziskas Freund*innen auf der Suche nach Verwirklichung die Stadt verlassen oder sich mit Partydrogen ausprobieren, beginnt Franziska an ihrem ersten Romanmanuskript zu schreiben. Die Figuren der Erzählung tragen die Namen ihrer wirklichen Freund*innen, den Text speichert sie unter dem Titel »Freizeit« ab. Bewusst spielt Kaspari auf verschiedenen Ebenen mit der autofiktionalen Verwirrung, nachdem ihr deutlich wurde, dass sich ihr Text und ihr Leben eh nicht klar trennen lassen.
Die 1991 geborene Autorin hat Literatur- und Musikwissenschaften studiert und dafür selbst einige Zeit in Paris gelebt. Als freie Autorin schreibt sie für unterschiedliche Textformate und Magazine, ihre Kolumne »nelke-schneewittchen und alfalfa« erschien regelmäßig in der Literaturzeitschrift »metamorphosen«. Verwechselt werden will Carla Kaspari mit ihrer Protagonistin trotzdem nicht. »Ich bin natürlich nicht Franziska. Die Geschichte ist komplett fingiert.« Pauschalisierungen findet die Autorin schwierig, daher lässt sie ihrem Debüt auch nicht den Stempel eines Generationenromans aufdrücken. Auch das hat sie mit ihrer Protagonistin Franziska gemeinsam, die auf keinen Fall einen Coming-of-Age-Roman schreiben will, es am Ende aber trotzdem tut. Nur eines unterscheidet die Autorin von ihrer Protagonistin eindeutig: der Ort des produktiven Schaffens. Denn fertiggestellt hat Kaspari ihren Roman zu Beginn der Pandemie auf einem Schloss am Niederrhein, wo sie als Stipendiatin des Projekts »stadt.land.text NRW« vier Monate lang leben und arbeiten durfte. Als Städterin erkundete sie dort während des Lockdowns das Landleben und resümiert in einem ihrer Blogeinträge: »die Freizeit findet, wenn überhaupt, dann auf dem Display statt«.
Verband man Freizeit in der Antike noch mit Muße, ist Muße heute das, was uns in unserer Freizeit oft fehlt
Social Media und Entfremdung gehören unumgänglich auch zu Kasparis literarischer Milieurecherche. Der Werktitel ihres Romans, erzählt sie, habe allerdings schon vorher festgestanden. »Einfach weil er so schön generisch ist und irgendwie nichtssagend, aber gleichzeitig jede und jeder etwas damit verbindet, auch etwas sehr Positives.« Denn Freizeit ist die Zeit, die wir selbstbestimmt gestalten können, über die wir frei verfügen, wenn unsere Zeit nicht durch die Arbeit fremdbestimmt wird. Konsumieren statt produzieren, auch wenn die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit durch die Digitalisierung immer mehr schwinden. Und genau das sei an Freizeit auch politisch: »Ich glaube, dass der Text verschiedene Lesarten hat. Er ist jetzt nicht hau-drauf-politisch mit einer Agenda, aber natürlich ist er irgendwie in der Gegenwart verortet und von daher geht es gar nicht, dass man es unpolitisch gestaltet«, meint Kaspari.
Franziska lebt in dieser Gegenwart, in der sich alles nach Entgrenzung und Entfremdung anfühlt. Entfremdet hat sich Franziska vor allem von ihren Freund*innen, insbesondere von Mina, die ihre Freizeit jetzt lieber mit Lo verbringt. Franziska mag Lo nicht und hat zu Minas Freund Benedikt nur sporadisch Kontakt. Als Mehmet, ihr engster Vertrauter, sich auf einer Party mit Lo zusammenschließt, fühlt Franziska sich schließlich noch einsamer. Sie wünscht sich, dass alles wieder wie früher wäre, aber die Vergangenheit lässt sich nicht zurückholen. Das muss sie besonders schmerzlich in Bezug auf Malo erfahren, mit dem sie ihren Ex-Freund Cyril betrogen hat. Die Unverbindlichkeit von Beziehungen, wie sie im Roman beschrieben wird, sei auch ein Produkt der Digitalisierung, findet Kaspari: »Es wird alles immer mehr individualisiert und auf die einzelne Person fokussiert und konzentriert, dass sowas wie Gemeinschaft und Freundschaft, die Dinge, die eigentlich wichtig sind, um dem Ganzen entgegen zu wirken, scheinbar immer unwichtiger werden.«
In einer Welt, in der unser Wert an unserer Produktivität gemessen wird und wir selbst unsere Freizeit durch permanente Online-Präsenz numerischen Evaluationen und Optimierungsprozessen unterziehen, scheint der Rückzug in die Einsamkeit unabwendbar. So freut sich Franziska bereits, wenn eine Person zeitgleich mit ihr online ist, und fühlt sich jedes Mal allein gelassen, wenn ihr eine Google-Suche nicht die gewünschten Ergebnisse liefert: »Sie findet, dass die Menschheit zu Recht überfordert ist mit dieser neuen Gegenwart und dem Übermaß an falscher Weltverbundenheit.«
Verband man Freizeit in der Antike noch mit Muße, ist Muße heute das, was uns in unserer Freizeit oft fehlt. »Man braucht eigentlich diesen Müßiggang, auch das Nichtstun und Sich-selbst-einteilen-können, um tatsächlich in das Wesen von irgendetwas vorzudringen«, sagt Carla Kaspari. Wahrscheinlich liegt der eigentliche Mehrwert von Freizeit daher genau hierin: im Nichtstun und im Müßiggang, den wir als Entschleunigung verstehen, der aber vielmehr eine Wertschätzung unserer von Produktionszwängen befreiten Zeit ist — und somit vielleicht auch ein kleiner politischer Akt des Widerstandes.
Stadtrevue präsentiert:
Lesung: Fr. 9.9., King Georg, 21 Uhr