Atlantide
Die Lagune von Venedig im Hochsommer 2020. Abseits der Touristenpfade, da, wo es nicht pittoresk ist, sondern Venezianer vom kargen Boden und wenig Lohn leben. Wie Daniele auf der kleinen Insel Sant’Erasmo, wo er bei brüllender Hitze hilft, den Acker zu bestellen. Die anderen Jugendlichen kühlen sich währenddessen im Wasser ab, jagen mit ihren Barchini, frisierten Motorbooten, durch die Kanäle oder hängen in den fast menschenleeren Gassen, Gärten und Friedhöfen der Stadt ab. Venedig gehört in diesen Monaten fast ihnen, wegen des Lockdowns gibt es keine Touristen, nur hier und da jätet ein alter Mann Unkraut.
Für die jungen, testosteronstrotzenden Männer sind ihre Schnellboote Statussymbole und Lebensinhalt, so wie andernorts Motorräder oder getunte Autos. Mit ihnen protzen sie, reißen Mädchen auf und liefern sich illegale Rennen durch die morbid-erhabene Lagunenlandschaft. Die Boote werden mit LED-Lichtern verziert und mit megawattstarken Musikboxen ausgestattet, aus denen Techno und HipHop ballern, die Motoren bis aufs Äußerste hochgetunt, um mit mehr als 85 Stundenkilometern wie im Rausch übers Wasser zu rasen. Daniele will auch so ein Boot, das schnellste von allen, um sich in der Clique zu beweisen.
Ein Leben am und auf dem Wasser, ständig in Bewegung, ein Werden und Vergehen, und eine Parallelwelt, die von den Touristen kaum wahrgenommen wird. Der italienische Videokünstler und Filmemacher Yuri Ancarani hat über vier Jahre hinweg diese Gruppe Jugendlicher beobachtet, die Szenen und wenigen Dialoge seines semifiktionalen Films entspringen ihrem Alltag. Sie stellen sich selbst dar, der Film dokumentiert und mythisiert sie. Die Kamera ist oft ganz nah an den Gesichtern, dann wieder fest am Boot und trägt in langen Sequenzen den Betrachter durch die Kanäle zwischen Abendrot und Morgengrauen.
Der jugendliche Exzess, das Spiel mit der Gefahr, die Rastlosigkeit und das Gefühl der Unsterblichkeit stehen im Kontrast zur erstarrten, morbiden Stadt, die den Heranwachsenden zur Bühne wird und mit der sie verschmelzen wie einst die Bewohner der versunkenen Sagenstadt Atlantis. Die Atmosphäre, die Ancarani einfängt, ist kontemplativ und aufregend zugleich, ein rasender Stillstand, eine Reise ans Ende der Nacht, betörend und verstörend zugleich.
I/F/USA 2021, R: Yuri Ancarani, D: Daniele Barison, Maila Dabalà, Bianka Berényi, 104 Min. Start: 8.9.