Sadismus, Marke BRD

Millionen von Kindern wurden in der alten BRD in Erholungs­heime verschickt und erlebten dort Schreckliches. Erst jetzt wird ihr Schicksal aufgearbeitet — auch in NRW

»Sag mal, warum magst du eigentlich keinen Fisch? Warum ekelst du dich davor so? Hast du mal irgendwas Schräges erlebt?« Irgendwann fiel mir auf, dass der ältere Freund eine Sperre hatte und einfach nicht anrühren mochte, was für mich selbstverständlich war. Oder ein anderer alter Freund, eine Generation älter als ich: noch krasser. Er kann keinen Käse riechen, nicht mal sehen. Bizarr. Ich fragte nach und bekam — obwohl sich die beiden alten Männer nicht kennen konnten — beides mal die gleiche Geschichte zu hören: Sie sind als kleine Kinder in Kur geschickt worden, sollten aufgepäppelt werden, es war ja noch unmittelbare Nachkriegszeit. Im Kinder­sanatorium mussten sie essen, was auf den Tisch kam — egal was und ohne Widerrede. Aßen sie es nicht, wurden sie gezwungen. Widersetzten sie sich dem Zwang, wurden die Kinder durch Schläge gebrochen — und schließlich bestraft: Sie mussten noch die verdorbenen Nahrungsmittel essen. Und die Qualen gingen noch weiter, sollen hier aber nicht aufgeschrieben werden. Deshalb also: kein Fisch bis heute und niemals Käse.

Ich hatte diese Geschichten als schreckliche Anekdoten abgespeichert, aber eben nur als Anekdoten. Ich verstand sie als Erzählungen von der üblichen Gewalt, die Kindern nun mal widerfuhr — im Nachkriegsdeutschland mit all den Altnazis und kaputten Soldatenvätern. Dass in meiner Kita, wir befinden uns im Jahre 1980, Kinder bestraft wurden, wenn sie nicht Mittagsschlaf halten wollten — nun nicht mehr körperlich gezüchtigt, sondern durch soziale Ausgrenzung beschämt —, hätte ich nie mit den Erzählungen der alten Freunde in Verbindung gebracht. Dabei liegt es nahe, dass das soziale Gift, was in den Kindererholungsheimen und Sanatorien wütete, bis in alltägliche Kita-Situationen ausstrahlte — und dass dieses Gift nicht nur in den 50er Jahren zirkulierte, sondern viel länger.

Davon, dass der Terror die Kinder bis in den Schlafsaal verfolgte, erzählt auch Detlef Lichtrauter: »Bei der streng verordneten Mittagsruhe mussten wir, ob müde oder nicht, die Augen geschlossen halten. Das Aufsichtspersonal schlich auf leisen Sohlen durch die Reihen. Schlug ein Kind auch nur einmal die Augen auf, gab es eine Ohrfeige. Oder sich auf eine andere Seite zu drehen — das war verboten. Ich musste zwei Stunden auf dem Rücken liegen. Für uns stimmte da kein Wertesystem mehr. Es herrschte völlige Unverhältnismäßigkeit.« Lichtrauter ist Jahrgang 1961, ein Arbeiterkind, sein Vater war Bergmann. 1973 bekam der schmächtige Junge eine Kur verschrieben, sechs Wochen, die ganzen Sommerferien, ins Heim nach Bonn-Oberkassel, Haus Bernward.

Lichtrauter gehört zu den Betroffenen, die seit einigen Jahren ihr Schicksal aufarbeiten, die andere Betroffene einladen, Zeugnis abzulegen und die Öffentlichkeit aufklären wollen. Er ist Landeskoordinator der Initiative Verschickungskinder NRW und Vorstand des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. Wenn er erzählt, weiß man: Es sind eben nicht Einzelschicksale, es sind keine Anekdoten aus den autoritären 50er Jahren, und es liegt auch nicht nur an den Altnazis. Es war ein System.

Tatsächlich ist die Idee, Kinder zwischen 3 und 13 Jahren sechs Wochen und oftmals in den großen Ferien in Kur zu schicken, erst in der Nachkriegszeit geboren worden. Sie geht nicht direkt auf Nazi-Ideologie zurück. Vordergründig ging es darum, kinderreiche Familien zu entlasten, meistens waren es Kinder aus Arbeiterfami­lien. Ein Kind, zwei Kinder wurden aus dem Haushalt »her­ausgenommen«, damit, wie es damals hieß, sie sich im Heim mal richtig satt essen konnten und bei den

Eltern zu Hause ein wenig Ruhe einkehrte. Der Erfolg der Kur wurde in Gewichtszunahme gemessen. Zwar herrschte auch in der DDR ein System der Kinderverschickung, aber dies war anders organisiert und verfolgte einen etwas anderen Zweck: Es ging dort unmittelbar darum, treue Staatsbürger heranzuziehen. Deshalb ist im folgenden von den Heimen der alten BRD die Rede.

Über 1000 Kindersanatorien gab es in Westdeutschland, allein auf der Insel Borkum über 30. Die Kinder wurden an die Küsten verschickt oder in die Mittelgebirge, in Nordrhein-Westfalen war die sauerländische Stadt Brilon ein Hot Spot dieser Heime. Sie wurden kommunal betrieben — in NRW vom Landschaftsverband Rheinland —, von Krankenkassen, von der Caritas und der Diakonie, einige auch privat. Die Deutsche Bahn stellte Sonderzüge bereit, um die Kinder aus den Städten zu schaufeln. Sie gehörte zu den Profiteuren dieses Systems. Abfahrt für Kölner Kinder war der Bahnhof Deutz.


Das Personal bläute einem ein, man wäre selbst schuld an den Strafen. Wenn Sie das einem Kind, drei Jahre, vier Jahre alt, über Wochen einhämmern, dann glaubt das Kind es irgendwann
Detlef Lichtrauter

Lichtrauter ist bereit, dieser ursprünglichen Idee einer Kinderkur, um Familien zu entlasten, eine gewisse Relevanz und Legitimität zuzubilligen. Aber er schränkt sofort ein. »Man muss sich nur mal anschauen, was für Diagnosen gestellt wurden, die zu einer Verschickung geführt haben.« Dann zitiert er: »Schlechter Esser, schlechte Haltung, schlaffe Muskulatur. Es kommt noch besser: ›reduzierter Allgemeinzustand‹, ›sekundäre Anämie‹, was nichts anderes heißt als Blässe. Die Kinder waren einfach ein bisschen blass! Und weiter: ›Haltungsschwäche‹, ›nervöse Übererregbarkeit‹. Das waren Gründe, fünf-, sechsjährige Kinder sechs Wochen ins Heim zu schicken. Die typischen Behandlungen waren: Bestrahlungen, Liegekuren — da wurden die Kinder gezwungen, mehrere Stunden stocksteif zu liegen, gerne auch draußen —, Solebäder, Höhensonne.« Haarsträubende Diagnosen, selbst nach damaligen medizinischen Maßstäben. Die Ärzte bekamen übrigens Prämien für diese Diagnosen, auch sie gehörten zu Profiteuren.

Die Kinderverschickungen fanden nicht nur in den 50er Jahren statt, als Proletenfamilien vielleicht tatsächlich noch Hunger und Mangelernährung gedroht hätten. Die meisten Verschickungen sind für die 60er Jahre verzeichnet, erst Mitte der 70er Jahre ebbten sie ab. Das Bonner Haus Bernward wurde 1976 geschlossen; im späteren Nachlass des Heimleiters wurden pädophile Fotografien entdeckt. Noch in den 80er Jahren kommen Kinderverschickungen vor, Lichtrauter hat Fälle selbst aus den frühen 90ern dokumentiert. Es scheint keine ideologische Grundierung, keine weltanschauliche Motivation vorzuliegen: Verschickungen fanden unter CDU- wie unter SPD-Regierungen statt, in katholischen wie in evangelischen Bundesländern. Einen mildernden Einfluss der »68er« kann Lichtrauter nicht entdecken. Zwar hat es nach 1968 eine von Linken und Spontis initiierte Bewegung zur Befreiung von Heimkindern gegeben, aber gesellschaftlich war diese Strömung marginal, konnte nur Einzelerfolge erzielen — und: Es ging ihr um das Schicksal von Heimkindern, nicht um die »Erholungsheime«.

Etwas Monströses türmt sich da auf — zehn bis zwölf Millionen Verschickungskinder hat es in diesen Jahrzehnten gegeben. Ihre Schicksale, ihre Qualen, die sich beängstigend bis in die Details wiederholen, sind immer noch kaum dokumentiert, und vor allem: Das System ist nicht erforscht. Selbst engagierte Leute wie Detlef Lichtrauter stehen erst am Anfang. Wie kann das Schicksal ihrer Kinder eine Gesellschaft, die sich sonst so eitel als Aufarbeitungschampion — was die Verbrechen der Nazis angeht, aber auch die Dokumentation der SED-Diktatur — von der Weltgemeinschaft feiern lässt, ignorieren? Oder mit einem Achselzucken abtun — so war das halt damals?

»Fast unisono berichten mir andere Betroffene: Ich dachte immer, ich wäre alleine; nur mir ist das passiert. Das Personal bläute einem ein, dass aufgrund schlechten Verhaltens man selbst an den Strafen schuld wäre. Wenn Sie das einem Kind, drei Jahre, vier Jahre alt oder auch schon acht, über Wochen einhämmern, dann glaubt das Kind es irgendwann. Und dieser Zweifel an sich selbst, der bleibt, der hat sich eingefressen«, sagt Lichtrauter.

Der erste Schritt, um Erfahrungen zu zerstören, die sich immer kollektiv vermitteln, die, um von uns begriffen werden zu können, den Austausch über das Erlebte und Erlittene voraussetzen, ist Atomisierung und Isolierung. Jeder soll mit seinem Schicksal allein bleiben, jeder soll sich fragen, ob er oder sie nicht doch selber schuld sind. Die Isolation der Kinder voneinander geht einher mit einem weiteren Schritt: Einschüchterung. Noch mal Detlef Lichtrauter: »Schon die Ankunft in dem Haus war geprägt von mangelnder Empathie. Aber nein, das drückt es gar nicht aus: Ich wurde sofort angepflaumt, sofort in einem Kasernenton angegangen. Es wurden Ein- und Zwei-Wort-Sätze gesprochen, nur Befehle. Kein Lächeln, keine Freundlichkeit. Man bekam von der ersten Sekunde an vermittelt: Du zählst hier nichts, du hast keine Rechte, du hast zu funktionieren. Das hat jedes Kind direkt eingeschüchtert.«

Der nächste Schritt: den Terror an die Opfer delegieren. Kinder wurden ermuntert, andere Kinder, die als renitent hingestellt wurden, zu bestrafen, durch Demütigung oder erlaubtes Zuschlagen. Die Kinder wussten: Heute sind sie Täter, morgen können sie die Opfer sein, und buhlten um die Gnade des Aufsichtspersonals. Schließlich der letzte Schritt, die Zerstörung von Werten, von Moral und Anstand, von alltäglichen Maßstäben, mit denen man eigenes Verhalten und das der anderen bemisst: »Es gab nicht nur Schläge und Ohrfeigen. Kinder wurden an den Haaren gezogen, sie wurden massiv verprügelt, es waren Prügelorgien. Das habe ich selber erlebt. Wir haben uns ständig gefragt, für welches ›Vergehen‹ bekomme ich welche Strafe? Jeder von uns hatte ja von zu Hause einen Wertekodex. Zum Beispiel: Bevor man geschlagen wird — wenn man überhaupt geschlagen wurde —, gab es eine verbale Ansage. Dieser Wertekodex war im Heim komplett verschoben.« Damit ist das sadistische Universum geschlossen. Der Sadismus schlug auch auf die Betreuerinnnen und Betreuer — häufig ungelernte Kräfte, selber Leute aus armen Familien — zurück. Sie hatten keine Hemmungen, zu Medikamentenmissbrauch zu greifen. Teils griffen sie die Kinder auch sexuell an und konnten internen Anweisungen entnehmen, wo sie hinschlagen sollten, damit die Hämatome nicht so sichtbar sind. Lichtrauter betont: »Das alles ging weit über die kruden Erziehungsmethoden, wie sie in 50er und 60er Jahren praktiziert wurden, hinaus. Das Argument, in den Heimen wurde nur das praktiziert, was die Kinder von zu Hause kannten, stimmt einfach nicht. Das waren Straf­taten, schon damals.«

Eine These: Dieses System aus Strafen und Bestrafen, aus Traumatisierungen, die man anderen zufügt, die man aber auch an sich selbst wiederholt, führt dazu, dass die Gewalt als Bestandteil des Lebens, der alltäglichen Welt integriert wird, dass man sie schließlich akzeptiert. »Ich habe mit meinen Eltern nicht darüber gesprochen. Ich kam nach Hause, erlebte große Erleichterung, dass es vorbei war, meine Eltern haben mich gefragt, wie es denn gewesen sei. Ich habe einfach nur gesagt: gut. Es war ein radikaler Schnitt. Ich habe zwanzig Jahre lang meinen Eltern gegenüber nicht davon gesprochen.« So kann es kommen, dass eine Gesellschaft sich über Jahrzehnte mit dem Schicksal ihrer Kinder arrangiert.

Tatsächlich: über Jahrzehnte. Als die Journalistin Anja Röhl 2009 mit Texten begann, ihr Schicksal als Verschickungskind öffentlich zu machen, war das spektakulär. Es war der Startschuss zu einer breit angelegten Aufarbeitung: Die Initiative Kinderveschickung NRW hat sich 2019 gegründet, am 26.11. letzten Jahres hat der Landtag NRW einstimmig die Förderung des Aufarbeitungsprojektes beschlossen. Das »Citizen Science Projekt Kinderverschickungen — NRW« ( CSP-KV-NRW) ist in Köln ansässig und hat am 1. Mai seine Arbeit aufgenommen.

Auf allen Ebenen soll gearbeitet werden: Die wissenschaftliche Erforschung dieses Systems, die gerade erst beginnt, soll unterstützt werden, es werden aber auch Erinnerungsforen für die breite Öffentlichkeit geschaffen. Vor allem sollen die Betroffenen reden können, sollen ihre Zeugnisse ablegen, sich mitteilen, mit anderen in Kontakt kommen. Ohne große Werbung hat die Bundeshomepage verschickungsheime.de bereits 7000 Zeugnisse gesammelt (Stand 1. August). Bei Detlef Lichtrauter haben sich über den NRW-E-Mail-Verteiler bereits 470 Betroffene direkt gemeldet. Viele Rechtsnachfolger der Heimbetreiber, sagt er, sind zur Zusammenarbeit bereit, etwa die Krankenkassen oder die Caritas. Der Landschaftsverband Rheinland mauert allerdings. Enttäuschend für die Betroffenen ist aber vor allem das Verhalten der Bundespolitik: Das Familienministerium sieht sich nicht für die zentrale Koordination und Förderung der Aufarbeitungsprojekte verantwortlich und hat dies zur Ländersache erklärt. Die Gefahr, dass damit die Geschichte der Verschickungskinder abermals aus der großen Öffentlichkeit verdrängt wird, ist gegeben.

Heute ist Deltef Lichtrauter Musikschullehrer, lebt in Issum am Niederrhein und unterrichtet an der Unesco-Gesamtschule in Kamp-Lintfort. Er erzählt voller Begeisterung von den Cajon-Sessions, die er mit seinen Schülern abhält, gerne direkt nach den Wochenenden, wenn er mal wieder mitbekommt, dass die Kinder sich die Augen am Smartphone und vorm Fernseher eckig ge­glotzt haben. Die Cajon ist eine Kistentrommel, man kennt sie aus dem Flamenco. Sie macht einen Heidenlärm, man kann aber auch raffinierte und subtile Rhythmen aus ihr zaubern. Alles ist möglich. Er denkt dann an die besessenen spanischen Flamenco-Percussionisten, die rauschende Feste feiern. In der Musik kommt man zusammen, teilt etwas mit anderen, ist nicht mehr allein. Musik gab es im Bernward-Haus nicht. Er kenne viele Betroffene, sagt Detlef Lichtrauter, die später Pädagogen geworden sind, so wie er auch. Sie wollten mit ihrem Schicksal klar kommen, indem sie es besser machen.