Point Zero: Boiler Room
Der Name Bradley Zero ist eng mit dem Aufstieg von Boiler Room im vergangenen Jahrzehnt verbunden. Der Boiler Room ist ein TV-Format für die Raver:innen der Generation Y und Z. Der Name rührt tatsächlich von einem Heizungskeller her, in den DJs eingeladen wurden, um dort inmitten von Tänzer:innen aufzulegen. Dokumentiert werden diese Sets bereits seit zwölf Jahren von zig Kameras und natürlich moderiert von einem Host. Ein solcher war Bradley Zero Phillip, wie er mit vollem Namen heißt. Dank seines legeren Looks und seiner entspannten Performance am Mic wurde er allseits beliebt und eines der bekanntesten Gesichter des Franchise.
In den Anfangstagen war Boiler Room noch nicht das Multi-Dollar-Imperium, sondern noch in der Spät-DIY-Pubertät. Mittlerweile gehört die von dem Briten Blaise Bellville gegründete Firma, dank regelmäßiger Shows in mehr als hundert Städten weltweit und einer absurden Menge von 3,5 Milliarden archivierten Minuten Musik, zur Ticketing Company DICE — und hat die Elektronische Musikszene nachhaltig beeinflusst. Den Personenkult um DJs hat es auch schon vorher gegeben, sicher, aber das Format Boiler Room — und kurze Zeit danach Instagram — pushte diesen Star-Trend massiv. Und veränderte infolge das Clubverhalten des Publikums: Plötzlich tanzten alle gen DJ, denn dieser war ja nun das Ereignis und nicht mehr das eigene Aufgehen in der Musik.
Gleichzeitig haben die Sessions, schaut man sie auf dem heimischen Bildschirm, oft etwas Trauriges: Statt befreiender Unberechenbarkeit der Nacht warten hier (meist) minutiös geplante Sets, komplett durchinszeniert. Zur Verteidigung muss aber gesagt werden, vor Ort kann es — wenn man in der richtigen Stimmung ist und die Kamera ausblenden kann — durchaus eine energetische Erfahrung sein.
Aber lassen wir für einen Moment die Business-Techno-Welt beiseite und widmen uns lieber Bradley Zero, der die immense Reichweite, die ihm seine Boiler-Room-Präsenz verschafft hat, gekonnt für seine Ambitionen als DJ und Labelmacher zu nutzen weiß.
Ursprünglich aus dem 300 Kilometer nördlich von London gelegenen Leeds stammend, das wie viele britische Städte in der »Peripherie« mit den Folgen des industriellen Strukturwandels zu kämpfen hat, zog er für ein Kunststudium nach London. Zu diesem Zeitpunkt legte Bradley Zero schon auf, noch eher Downtempo orientiert, viel Dub und Reggae — ein großer Einfluss war sein Vater, der als DJ auf Firmen- und Familienfeiern auflegte. Von ihm rührte auch die Inspiration, auf den Partys zum Mikrofon zu greifen.
In London landete Zero in Peckham: Damals noch nicht der durchgentrifizierte Stadtteil, eingereiht in die New-Hipster-Communitys Shoreditch, Dalston und Hackney, sondern noch runtergekommen und mit Möglichkeitsräumen für Menschen mit Phantasie. Hier sollte er seine Community finden — und zu seinem Sound.
Nachdem ich so lange nicht mehr aufgetreten bin, ist mir klar geworden, was für ein Privileg es ist, die Gefühle von Hunderten Menschen zu kontrollieren
Bradley Zero
Heute sind Bradley Zeros Sets geprägt von einer stilistischen Offenheit, wie sie viele DJs seiner Generation auszeichnet. Wo in den 90ern und frühen Nuller Jahren noch recht wenige den Mut, das stilistische Wissen und überhaupt das Interesse hatten, Techno, House, Jazz, Downbeat und was sonst noch zu mischen, ist dies mittlerweile state of the art. Dennoch gelingt das bis heute nicht vielen so fließend wie Zero in seinen Sets. Seine Souveränität hat er sich über eine Dekade auf den Dancefloors seiner eigenen Clubnächte unter dem Label »Rhythm Section« erarbeitet. Fanden diese zu Beginn im kleinen Peckhamer Canavan’s Pool Club statt, gastiert die Reihe heute in den weltweit angesagtesten Läden; zudem etablierte Bradley Zero die Labelimprints Rhythm Section International und International Black, sowie eine eigene NTS Radioshow.
Man muss sich nur das Roster des Labels anschauen, um zu verstehen, wie ernst es Bradley Zero ist, wenn er von seinem grenzenlos offenen Soundansatz spricht. Wo sonst findet man poetisch-psychedelischen TripHop (Klein Zage) neben luftigen Jazz-Entwürfen (cktrl), nervös tänzelnder House Music (Chaos in the CBD), funkiger Electronik (Dan Kye), verspieltem Techno (Jamal Dixon) oder Post-Dubstep (Kareem Ali)? Für alle, die noch nicht mit dem Label vertraut sind, empfehlen sich die regelmäßig erscheinenden »Shouts«-Compilations.
Bradley Zero kann nicht wirklich still sitzen. So wundert es nicht, dass er die Zeit der Stille in den Clubs, die die Pandemie für uns alle bedeutete, zumindest für das Label produktiv zu nutzen wusste. So gilt es auf Grund stetig erhöhter Veröffentlichungsfrequenz neben XL Recordings, Young Turks oder Hessle Audio als eines der derzeit bedeutendsten britischen Imprints. Und doch sorgte die brutale Covid-Stopptaste auch bei ihm für Momente der inneren Unruhe und Sinnsuche — und sensibilisierte nachhaltig für die Zeit nach den Lockdowns. »Nachdem ich so lange nicht mehr aufgetreten bin, ist mir klar geworden, was für ein Privileg es ist, die Gefühle von Hunderten oder Tausenden Menschen zu kontrollieren. Das ist ein solcher Kick«, gab er dem britischen Musikjournalisten Ben Murphy für die beatportal-Website zu Protokoll. »Es ist, als hätte man die Menschen in der Hand, aber auf eine positive Art und Weise. Um ihre Stimmung, ihr Bewusstsein zu heben, ihre Knöpfe zu drücken — damit sie Freude empfinden. Das Gefühl, das man zurückbekommt, ist, ich will nicht kitschig klingen, wie eine Droge.«
Während wir, so scheint es aktuell, auf einen sehr prekären Herbst / Winter zu steuern, mit dem Drohszenario »Absageflut« am Horizont, ist es wichtig, doch noch einmal über Wörter wie »Verantwortung« und »soziale Entscheidungskompetenz« nachzudenken. Bradley Zero hat dies verstanden: Bei der ersten Rhythm-Section-Party nach Ende der Covid-Auflagen im Londoner Club E1 bestand er auf einen Impfnachweis, oder alternativ: auf einen negativen Test. Trotz Gegenwinds aus der britischen Nachtlebenindustrie, die sich für »Keine Auflagen« einsetzte, um bloß die Umsätze hochzuhalten. Das kann man ihm hoch anrechnen.
Wenige Stunden vor dem Verfassen dieses Features war es dann endlich soweit: Bradley Zero ist im Berghain angekommen, jener Bastion des undokumentierten Ravens, die mit ihrer »No Photo«-Maxime kontradiktorisch zu Boiler Room steht. Doch auch hier gibt es inszenatorische Momente: Natürlich hat er den obligatorischen Selfie vor dem Kult-Club gemacht. Die Kameras sind für immer in seinem Kopf.
Ob traurig oder nicht, das muss jede*r für sich bewerten — wir wollen hier ja nicht rumboomern.
Cologne Sessions: Bradley Zero, Fr. 28.10.; Jaki, 23 Uhr