Musikschule mit Geschichte
Kölner Hausfassaden gleichen einem Flickenteppich. Denn die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Stadt wurde oft nur notdürftig wieder aufgebaut. Gerade im Severinsviertel, nördlich des Chlodwigplatzes, ist dies zu sehen. Hier stehen alte, rote Backsteingebäude neben 50er- und 60er-Jahre-Neubauten. An der Annostraße ziert neben einem Seniorenzentrum-Neubau eine rund 200 Meter lange, alte Backsteinmauer die Straße. Schon die gelben Ornamente und Musterungen lassen erahnen, dass es sich um einen geschichtsträchtigen Ort handelt. Durch ein Tor gelangt man auf das Gelände, auf dem neben Bäumen, Spielgeräten und Tischtennisplatten das heutige »Musikhaus Süd« steht, eine Musikschule in einem freistehenden, rot gestrichenen Häuschen. Wer schon einmal dort war, fragt sich, was es mit diesem ungewöhnlichen Ensemble auf sich hat.
So auch Thomas Deres, Historiker aus Köln und spezialisiert auf die Geschichte des städtischen Gesundheitswesens. Deres steht Ende September vor der Musikschule und zieht immer wieder historische Dokumente, Bücher und Akten aus seiner braunen Aktentasche. »Wenn man mit mir durch die Stadt läuft, dauert es schon mal etwas länger«, sagt er mit einem Grinsen. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Gebäuden der Stadt. Die Geschichte des Musikhauses sei ihm seit 1990 bekannt, als er sich mit den öffentlichen Krankenhäusern beschäftigte, erzählt er. »Die Geschichte beginnt 1883, als die Familie von Oppenheim der Stadt Köln ein Kinderkrankenhaus stiftet.«
Die wohlhabende jüdische Familie von Oppenheim ist Begründerin des Bankhauses Sal. Oppenheim und seit der Zeit der Französischen Revolution in Köln ansässig. Sie gehörte damals zum liberalen Wirtschaftsbürgertum, prägte das Leben in der Stadt politisch und kulturell — unter anderem auch durch den Bau des Oppenheimschen Kinderhospitals zwischen Annostraße und Buschgasse, das Platz für 80 Kinder hatte. Kein Einzelfall, viele wohlhabende bürgerliche Familien stifteten damals kulturelle und medizinische Einrichtungen. Nach der Eröffnung wurde das Kinderhospital Schritt für Schritt durch Stiftungsgelder erweitert und hatte so in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik große Bedeutung für die Behandlung kranker Kinder jedweder Konfession.
Ein Wendepunkt war die Machtergreifung der Nazis 1933. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verbot jüdischen Ärzt*innen, zu praktizieren. Nach Recherchen von Thomas Deres verloren dadurch 22 Menschen, die in öffentlichen Krankenhäusern tätig waren, ihren Job. Außerdem war es durch eine Verfügung des Kölner Oberbürgermeisters fortan verboten, Medikamente, Verbandsmaterial oder medizinische Geräte von Firmen zu erwerben, die von den Nazis als jüdisch definiert wurden.
Mit der Einführung der »Nürnberger Rassengesetze« 1935 gingen die Nazis noch einen Schritt weiter: Der Name des Hospitals, der auf seine jüdischen Stifter*innen hinweist, wurde geändert. 1937 änderten die Nazis auch das Emailleschild am Eingang, außerdem Briefpapier und Stempel und entfernten die in Stein gehauene Inschrift »Freiherr von Oppenheimsches Kinderhospital«. 1941 folgte das Verbot, Kinder zu behandeln, die die Nazis als »jüdisch« definierten. 1943 dann zerstörten Bomben den imposanten Gebäudekomplex; was blieb, war die kleine Isolierstation — das heutige »Musikhaus Süd«.
Einige Mitglieder der Familie Oppenheims konnten Deutschland verlassen, andere blieben. 1938 hatten die Nazis die Familie schon gezwungen, auch ihr Bankhaus auf den Kölner Robert Pferdmenges zu übertragen und den Namen der Bank zu ändern. Die Geschichte des Oppenheimschen Kinderhospitals — sie steht exemplarisch für die soziale und wirtschaftliche Isolation, Vertreibung und Ermordung der Jüd*innen durch die Nazis.
Der eine oder andere hat wohl über die Vergangenheit des Hauses gemunkelt, eine Aufarbeitung gab es jedoch nicht
Carmen eckhardt
Lange Zeit blieb diese Geschichte jedoch unbemerkt. Zwar waren historische Unterlagen über das Kinderkrankenhaus vorhanden, doch es fehlte das breite öffentliche Wissen über die Geschichte des Ortes. Selbst die Mitglieder des »Musikhaus Süd« kannten die Vergangenheit des Orts nicht — bis die Dokumentarfilmemacherin Carmen Eckhardt anfing, sich dafür zu interessieren. »Der eine oder andere hat wohl über die Vergangenheit des Hauses gemunkelt, eine Aufarbeitung jedoch gab es nicht«, sagt Eckhardt. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der NS-Zeit und ist selbst Mitglied im Verein »Musikhaus Süd«. Als Eckhardt mit der Recherche begann, wendete sie sich an Thomas Deres. »Ich habe sie dann mit Akten zugeschüttet«, erinnert er sich. »Nichts im Musikhaus Süd erinnert an die Geschichte«, betont Eckhardt. »Hinweise auf die schreckliche NS-Zeit und das Regime sind in der ganzen Südstadt sehr dünn gesät.«
Zusammen mit dem Verein der Musikschule organisierte Carmen Eckhardt im September 2022 eine Veranstaltung zur Geschichte der ehemaligen Isolierstation. »Wir wollen die Vergangenheit auch den Kölnerinnen und Kölnern vermitteln und sie miteinbeziehen.«
An diesem Tag wurden im Musikhaus alte Fotos ausgestellt, die Sängerin Dalia Schächter und der Gitarrist Christian von Götz trugen jüdische Lieder vor, Thomas Deres referierte über das Gesundheitssystem im Nationalsozialismus, und der Schauspieler Mark Zak trug Dokumente und Erlebnisberichte des jüdischen Arztes Max Benjamin vor.
Thomas Deres holt einen Personalbogen aus seiner braunen Ledertasche. »Das ist quasi der Lebenslauf von Max Benjamin«, sagt er. Benjamin bewarb sich in Köln als Assistenzarzt und wurde 1912 im Oppenheimschen Kinderhospital angestellt. 1919 verließ er die Klinik und ließ sich am Salierring in einer Praxis nieder. 1939 musste er wegen der Verfolgung durch die Nazis in die Niederlande fliehen. Doch 1940 überfiel Deutschland die Niederlande. »Benjamin und seine Familie werden daraufhin interniert. Kommen nach Westerbork, dann nach Auschwitz«, berichtet Thomas Deres. »Nur seine Tochter und er überleben, seine Frau und sein Sohn werden ermordet.« Bei seinen Recherchen hat Deres auch zwei weitere Ärzt*innen ausfindig machen können, die im Oppenheimschen Kinderhospital gearbeitet haben und verfolgt wurden, Karl Rosenthal und Wally Adler. Sie konnten in die USA fliehen.
Thomas Deres begrüßt, dass sich Carmen Eckhardt der Geschichte von Max Benjamin angenommen und sie erzählt hat; gleichzeitig betont Deres, dass man die anderen jüdischen Ärzt*innen, die verfolgt wurden, nicht vergessen sollte. »Ein Arzt erhängt sich 1939, ein Ehepaar nimmt sich 1939 das Leben. Einer ist sogar KZ-Arzt geworden und zwischen die Fronten gelangt«, erzählt er. »Es gibt alles, das man sich vorstellen kann. Allein in Köln gab es 145 jüdische Ärzte.« Die Erforschung dieser Schicksale sei ein relativ neues Phänomen, in den 80er Jahren habe die Recherche dazu angefangen, die ersten Arbeiten erschienen um das Jahr 2000.
So wurde 1985 die Lindenthaler Haedenkampstraße in Herbert-Lewin-Straße umbenannt. »Herbert Lewin war ein verfolgter Arzt. Haedenkamp hingegen war Ärztefunktionär — auch im Dritten Reich«, so Deres. Nach dem Zweiten Weltkrieg deckten Kolleg*innen Haedenkamp durch Eidesstattliche Erklärungen. Erst in den 80er Jahren, 30 Jahre nach seinem Tod, wurde seine Rolle im Nationalsozialismus beleuchtet und die Straße umbenannt. Ein spätes, aber positives Beispiel für kritische Erinnerungskultur.
All dies steckt in den Mauern der heutigen Musikschule, ist Teil der Geschichte des Oppenheimschen Kinderhospitals. Um solche Orte wiederzuentdecken oder gar nicht erst zu vergessen, regt Thomas Deres an, mit offenen Augen durch die Stadt zu laufen — eben so, wie es Carmen Eckhardt getan hat. Bei Straßenschildern plädiert Deres für Erklärungen, damit man weiß, wonach die jeweilige Straße benannt worden ist. Aber auch Mahnmale zu erhalten, sei eine Möglichkeit, zu gedenken. Das zeige die Diskussion um die Backsteinplombe im Kölner Dom: Im Zweiten Weltkrieg war er von einer Fliegerbombe getroffen und der Schaden von Zwangsarbeiter*innen mit Backsteinen repariert worden. Seit 2005 ist sie so verkleidet, dass es keine sichtbaren Kriegsanzeichen mehr gibt — eine umstrittene Aktion.
Für Carmen Eckhardt soll es nicht das letzte Projekt im Severinsviertel gewesen sein: »Wir wollen nahe am Ort bleiben, um dort weiterzuarbeiten, eine Stolperstein-Initiative für die Familie von Max Benjamin initiieren, und mit Schülerinnen und Schülern einen Gedenkort schaffen, jenseits der üblichen kalten Messingtafeln.« Weitere Ideen gibt es viele. Sie finde es vor allem wichtig, den Orten die Vergangenheit zurückzugeben, um ihnen eine Zukunft zu ermöglichen, sagt Carmen Eckardt: »Die junge Generation sollte involviert sein. Es war ja schließlich auch ein Kinderhospital.«