Bones and All
Warum die schüchterne Maren von ihrem wohlmeinenden Vater abends zum Schlafen ins Zimmer eingesperrt wird? Es leuchtet nach ein paar Filmminuten ein. Durchs Fenster schafft es die Jugendliche auszubüxen, im Dunkeln schleicht sie sich zur Pyjamaparty im Haus einer Mitschülerin. Als die ihr in trauter Runde gerade den frisch lackierten Fingernagel zeigt, beißt Maren plötzlich beherzt zu und nagt den Finger ab bis auf die Knochen.
»Call Me by Your Name«-Regisseur Luca Guadagnino lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sein romantisches Roadmovie über junge Außenseiter:innen keine gewöhnliche Liebesgeschichte erzählt. Maren (Taylor Russell) ist eine »Esserin«, eine Kannibalin, womöglich vererbt von der Mutter, die sie nie kennengelernt hat. Die Jugendliche entdeckt gerade erst ihre angeborene Natur, die sich noch unkontrolliert Bahn bricht. Marens Vater hat keine Kraft mehr, mit der Andersartigkeit seiner Tochter fertig zu werden, allein macht sich die junge Frau auf die Suche nach der eigenen Identität. Auf ihrer Reise entdeckt sie bald, dass sie nicht die Einzige ist, der kauzige Sully (Mark Rylance) etwa kann sie schon meilenweit riechen. Er bringt Maren bei, wie sie ihren Hunger stillen kann, ohne töten zu müssen. Vor allem aber begegnet sie Lee (Timothée Chalamet), einem jungen Rumtreiber, in dem sie einen Seelenverwandten entdeckt. Hier beginnt eine dramatische Jugendromanze, die aus weit mehr als Herzschmerz und ein bisschen Haut besteht. Eros und Thanatos.
Basierend auf dem gleichnamigen Roman der US-Autorin Camille DeAngelis inszeniert Guadagnino das Erwachen einer jungen Frau, die mit ihrer Andersartigkeit hadert und dabei auf einen Gleichgesinnten trifft, mit dem kurz so etwas wie Glück möglich zu sein scheint. Guadagnino erzählt von der Sinnsuche als Roadmovie durch den Mittleren Westen der Reagan-Ära der 80er Jahre. Er tut dies ebenso mit Anleihen bei Terrence Malicks »Badlands« und Gus van Sants »My Private Idaho« wie auch beim Splattergenre. Doch an Schockmomenten ist Guadagnino dabei weniger interessiert, er nutzt den Kannibalismus als Metapher für das jugendliche Gefühl, Außenseiter:in zu sein und zugleich mühsam lernen zu müssen, mit dem Überschwang des eigenen Innenlebens umzugehen. Vor großen Emotionen scheut er dabei nicht zurück und findet in berückenden Bildern immer wieder das Schöne im Hässlichen.
USA/I 2022, R: Luca Guadagnino,
D: Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, Michael Stuhlbarg,
130 Min., Start: 24.11.