Aufschneider mit Herz: Lucien, der Schreiberling

Verlorene Illusionen

Xavier Giannoli verfilmt Balzacs Roman als opulentes Sittengemälde des 21. Jahrhunderts

Angoulême, Frankreich, 1821: Lucien (Benjamin Voisin), Schriftsteller aus ambivalenten sozialen Verhältnissen — Vater Apotheker, Mutter Hebamme adeliger Abstammung —, beginnt eine Affäre mit einer verheirateten Dame der angesehenen Gesellschaft. Die für beide Seiten unglückliche Beziehung führt ihn nach Paris, wo der fortan gesellschaftlich geächtete Lucien sein Heil in der Selbstverwirklichung sucht. So stellt er sein Schreibhandwerk in den Dienst der Regenbogenpresse. Als Skandalschreiber steigt er in kürzester Zeit auf in die anvisierten besseren Kreise der Hauptstadt, wird reich und berühmt — nur um schließlich selbst einer Intrige zum Opfer zu fallen. Am Ende beziehungsweise am Neuanfang kehrt er heim nach Angoulême. Vielleicht geläutert, sicherlich erfahrener und sogar etwas klüger, wenn nicht gar weiser.

Möglicherweise hätte Regisseur Xavier Giannoli »Verlorene Illusionen« anders betiteln sollen. »Ein großer Mann aus der Provinz in Paris« wäre korrekter gewesen. Denn Giannoli und sein Co-Autor, der einstige Filmkritiker Jacques Fieschi, haben sich für dieses Meisterwerk nicht Honoré de Balzacs gesamten Dreiteiler vorgenommen. Sie adaptieren im Wesentlichen das Herzstück des Romans, plus einige Kapitel aus dem ersten Band, narrative Anpassungen und Verdichtungen inklusive. Der gesamte Erzählstrang um den Erfinder und besten Freund Luciens, David Séchard, wurde weggelassen. Im Film geht es nur um Lucien.


Wenn das Böse fade wäre, würde sich ihm ja niemand in die Arme werfen

Die Konzentration auf einen Protagonisten ist dennoch verständlich, weil Lucien wie jemand wirkt, den man aus gegenwärtigen Diskursen kennt. Ein Medienmanipulator, der durch wohlplatzierte Enten und pointiert gesetzte Entlarvungen öffentliche Reaktionen provoziert, die realpolitische Folgen haben können. Giannoli geht gestalterisch den umgekehrten Weg wie Kollegin Marie Kreutzer in ihrem furchtbaren »Corsage«: Statt durch etwas tapsig bis präpotent anmutende ästhetische Brechungen Gegenwärtigkeit und Relevanz zu reklamieren, taucht Giannoli in die Details der Zeit der Restauration ein. Dabei fokussiert er sich auf alles, was in der literarischen Vorlage Parallelen mit dem Hier und Jetzt erkennen lässt. Manche Anspielung hat er noch deutlich schärfer herausgearbeitet — im Bestreben, Balzac angemessen ernst zu nehmen.

Während sich dessen »Verlorene Illusionen« als klassischer Bildungsroman mit damals angesagten melodramatischen Momenten liest, im Kern jedoch eine scharfzüngige Abrechnung mit dem seinerzeit jungen Phänomen des Sensationsjournalismus und ein Sittengemälde des hauptstädtischen Kulturbetriebes zwischen Bestseller-Hypes und einer sich herausbildenden Avantgarde-Pop-Elite ist, präsentiert sich die Verfilmung als prächtiges Kostümspektakel mit großer Anzahl an Statist*innen. Die Handlung führt zudem in betörende In- und durch verführerische Exterieurs, dazu reihen sich Starauftritte aneinander (etwa von Xavier Dolan und Gérard Depardieu). Aber bei genauer Betrachtung entpuppt der Film sich als Allegorie des herrschenden Medienterrors und als ironischer Kommentar zur Hohlheit der heutigen Kunstwelt.

So wie Balzac mit seiner Detailflut penibel die Funktionsweise eines soziopolitischen Gefüges darstellte, nutzt Giannoli den irrsinnigen filmischen Aufwand dazu, eine Macher-Typologie aufzuzeigen. Es geht um deren aufregenden Charme, die mitreißende Wildheit der Tage und Nächte im ensprechenden Milieu. Das Leben auf der Überholspur. Giannoli weiß wie einst Balzac um die eigene Verstrickung. Beide erfreuen sich an dem, was sie kritisieren. Warum auch nicht? Die Welt aus den Angeln heben und dabei zuschauen, wie Karrieren zusammenbrechen und Unternehmen abgehen, bloß wegen dem, was man in der Zeitung von sich gegeben hat? Das hat schon Unterhaltungswert, und wenn das Böse fade wäre, würde sich ihm ja niemand in die Arme werfen. Der Filmemacher ist wie der Romancier Realist. So darf hier das Schlimme schimmern, kann man den Schlamm der vollgepissten Pariser Straßen und das allgegenwärtige Gesichtspuder adeliger Soireen gleichsam auf der Leinwand riechen. So muss es auch sein, wenn man das Leben — damals wie heute — verstehen will.

(Illusions Perdues) F 2021, R: Xavier Giannoli, D: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, 150 Min., Start: 22.12.