Zick Zick eröm
Filmarchivar Hermann Rheindorf ist nach 15 filmischen Zeitreisen durch die Kölner Stadtgeschichte am Ende des letzten Jahrtausends angekommen. Die 90er gehören zur Ära der Camcorder, VHS und Beta waren die bekanntesten Formate. 150 Minuten hat Rheindorf aus 150 Stunden Videobildern montiert. Sie stammen von Profis, ambitionierten Amateuren sowie Hobbyfilmer:innen. Dazu tritt er als Erzähler auf. Schon zu Beginn von »Köln: Filmreise in die 90er Jahre — Kölle on Camcorder« erinnert Rheindorf daran, dass die Jugendarbeitslosigkeit hier vor 30 Jahren mit 25 Prozent enorm hoch war. Ein Grund für das Aufkommen gleich mehrerer hedonistischer Jugendkulturen und zahlreicher Raves in Industriebrachen an den Rändern der Stadt? Rheindorf hat rare Filmdokumente zusammengetragen, unter anderem aus dem legendären Warehouse in Bickendorf, das bis zur berüchtigten Polizeirazzia 1994 die Crowd mit Acid-Tracks euphorisierte.
»Ich hatte bereits ein kleines Archiv aus den 1990ern, habe dann im Frühjahr noch einmal recherchiert und einen öffentlichen Aufruf gestartet«, erklärt Rheindorf. »Es kam eine große Menge Videomaterial zusammen. Damit habe ich wie an einem Mosaik gearbeitet.« In seinem laufenden Wimmelbild darf das Unvermeidliche nicht fehlen, früh wird der Dom in Szene gesetzt, seinerzeit noch mit der Plombe aus Ziegelsteinen an der westlichen Fassade. Der Karneval kommt zu seinem Recht, doch rückt Rheindorf Nebendarsteller:innen des Fastelovends in den Fokus. »Wenn ein Karnevalist in seiner Kneipe im Veedel aus dem Bauch heraus eine Rede hält, gehört das für mich in den Film«.
Das gilt ebenso für Luftaufnahmen der Stadt, die die städtebaulichen Veränderungen vor Augen führen. Außerdem sind Sketche auf Kölsch eines filmenden Ehepaares zu sehen. Rheindorf zeigt sie weniger wegen der bescheidenen Pointen, vielmehr geht es ihm um die Wiedergabe einer kleinbürgerlichen Lebenswelt. Kölsch — das Getränk — ist ebenfalls Thema, verließen in den 90ern doch einige Brauereien das Stadtgebiet und brauten fortan in Gegenden, die bei strenger Auslegung der Kölsch-Konvention zum Entzug der Markenrechte führen müssten. Die Doku belegt, dass auch an anderer Stelle getrickst wurde. Sei es bei der Verwendung von Geldern im Straßenbau oder bei der Einhaltung der eigenen Klimaziele. Der damalige OB Norbert Burger hatte zwar entsprechende Selbstverpflichtungen unterzeichnet, gab vor laufender Kamera aber den Ahnungslosen.
Die damaligen Kreativszenen sind im Film prominent vertreten, weil ich selbst darin unterwegs warHermann Rheindorf
Am stärksten ist »Kölle on Camcorder«, wenn es um Gegen- und Alternativkultur geht. »Dass die damaligen Kreativszenen im Film prominent vertreten sind, hat damit zu tun, dass ich selbst darin unterwegs war«, so Rheindorf, der frühe Weggefährt:innen gezielt fragte, ob sie entsprechendes Bildmaterial in der Schublade hätten. Tatsächlich kamen bemerkenswerte Zeugnisse aus dem Kölner Hiphop- und Techno-Milieu zusammen — und von den Ehrenfelder Kunstpiraten. Rheindorf: »Das sind Aufnahmen, die mir persönlich nah gehen. Ich habe meinen alten Freund Paul Kalkbrenner angerufen, der in den 90ern mit dem T-Shirt-Vertrieb Abgang! im Belgischen Viertel eine ganze Generation von Ravern ausstattete.« Am bekanntesten ist der mit der Telekom-Ästhetik spielende T-ERROR-Schriftzug, der auch im Film zu sehen ist. Über Kalkbrenner kam Rheindorf an ein Tape, auf dem Aktionen der Kunstpiraten festgehalten sind.
Bestaunen kann man auch Berühmtheiten im frühen Stadium ihrer Laufbahn. Im Hiphop-Block taucht der 17-jährige Tilmann Otto auf, der als Gentleman Weltkarriere machen sollte. Dazu kommt Reggae-Künstler Patrice in der zweiten Hälfte der 90er, im Kontext der Offenen Jazzhausschule.
Hermann Rheindorf hat inzwischen die Beschäftigung mit hundert Jahren Kölner Film- und Stadtgeschichte abgeschlossen. Sein Projekt ist damit nicht beendet. Schließlich warten die Nullerjahre auf ihre Bearbeitung. »Damit lasse ich aber mir noch Zeit. Ich glaube, es sollte wieder ein Abstand von dreißig Jahren gegeben sein.« In knapp zehn Jahren dürfte Rheindorf sich demzufolge ans Köln nach der Jahrtausendwende machen. Dann ist das, was eben noch Gegenwart war, historisch genug für seinen nächsten Trip.
»Köln: Filmreise durch die 90er Jahre — Kölle on Camcorder«
D 2022, R: Hermann Rheindorf, 150 Min
auf DVD und VoD, im Handel und via rheindvd.de