Die Kraft des Bejahens
Der Kölner Kontrabassist, Gitarrist und Komponist David Helm hat in den ersten Jahren seiner musikalischen Karriere zwar nicht geschwiegen, aber sich doch das Singen verkniffen. Schuld daran, so sagt er heute, waren seine Jahre im Kirchenchor. Einen Satz seines damaligen Chorleiters hat Helm sogar auf seiner Homepage verewigt: »Wer nichts spürt; da ist die Tür.« Es ging um Bach-Kantaten.
Obwohl Helm in einem musikalischen Haushalt groß wurde, seine Mutter sehr viel sang und das Vergnügen an der Musik an ihren Sohn weitergab, war dieses Chor-Erlebnis dennoch ein Schrecken: »Im Kirchenchor war ich keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt, aber es herrschte ein Klima der Angst«, resümiert er heute. Das ganze Drama, die Strenge, alles, was man halt von einem katholischen Kirchenchor (auch) erwartet, das habe ihn zutiefst abgeschreckt. Im weiteren Verlauf seiner Jugend und auch seiner Musik-Karriere überließ er das Gesangsmikrofon den anderen. Bis 2018 seine erste EP unter dem Alias Marek Johnson erschien — und Helm sang: »Stay Low«.
Für viele war es eine Überraschung, kannte man Helm bis dato als einen der gefragtesten Jazz-Bassisten (nicht nur) Kölns. Nach den Erfahrungen im Chor wandte er sich Schulbands zu, hörte standesgemäß vergleichsweise schlechten Punk und ähnliches Gitarrengeschrammel bei Festivals in der Nähe von Weilburg, dem hessischen Städtchen, aus dem er stammt. Irgendwo stand damals ein Kontrabass rum, ganz genau weiß er das gar nicht mehr. Er nahm sich das gute Stück einfach mit nach Hause und spielte nun eben das eher unhandliche Streich- und Zupfinstrument. Nach einem schnell abgebrochenen Lehramtsstudium Musik, machte er sich nach Köln auf.
An der hiesigen Hochschule für Musik und Tanz fand er seine gedankliche und emotionale Heimat in der Klasse von Dieter Manderscheid, dem großen Bassisten, der 2021 in den Ruhestand gegangen ist. Darauf angesprochen, dass es in der Domstadt ein reiches Arsenal an fantastischen Bassisten gebe — neben Held etwa Robert Landfermann, Oli Lutz, Joscha Oetz oder C.A.R.s Kenn Hartwig —, die allesamt über Genregrenzen hinweg immer wieder ungewohntes Terrain auskundschaften, ist er voll des Lobes für Manderscheid: »Das Tolle an Dieter ist, dass er einem beibringt, zu erkennen, was man spielen möchte — und zu ermuntern, das dann auch zu tun.«
So konnten sich in Manderscheids Klasse die unterschiedlichsten Charaktere herauskristallisieren, was bis heute für den Reichtum an Bassisten in Köln sorgt. Dass diese gefragt sind, das lässt sich durchaus an Helms langer Diskografie und seinen monatlichen Konzertankündigungen ablesen: Die Internet-Plattform Discogs verzeichnet alleine 42 instrumentale Beteiligungen an Jazz-Alben der letzten zehn Jahre. Helm weiß keine genaue Zahl zu nennen, glaubt aber, dass er mittlerweile auf »vielleicht 70« Veröffentlichungen mitgespielt habe. Stets als Bassist, wobei sich in den letzten Jahren das Instrumentarium um die E-Gitarre und elektronische Klangerzeuger erweitert hat.
Diese Bandbreite hört man etwa bei einer seiner letzten LPs — die er nicht als Sideman, sondern als Hauptakteur verantwortet: No-Eyed Deer, das er mit dem Wahl-Pariser Klaviererneuerer Jozef Dumoulin eingespielt hat. Selbst für die Kölner Szene, die stärker noch als jene in Berlin oder Amsterdam, die Wegkreuzung zwischen Jazz, Neuer Musik und elektronischer Avantgarde beleuchtet, ist dieses Krach-Feuerwerk ein Highlight. Das Duo fackelt nicht lange, sondern macht bereits beim Opener »Conditions« mit summend-surrenden Gitarrenverstärkern, exaltierten-hysterischen Synthesizerschreien, dröhnenden Humbuckern und allerlei Piff-Puff-Paff-Kläng-Badabäng klar, in welche Richtung es geht: Hemmungsloses Ausloten durchdringender Geräusche steht im Fokus dieser Platte.
Viel zu lange, habe ich Sachen zerredet. Jetzt möchte ich einfach mal machen
David Helm
Doch ist bekannt, wie FAZ-Redakteur Dietmar Dath einmal formulierte, »dass man wahrscheinlich überhaupt keine durchdringenden Geräusche machen kann, die nicht früher oder später schlicht schöne Musik werden wollen«. Auch bei No-Eyed Deer kann man entdecken, wie Helm und Dumoulin trotz aller Bemühungen den berückenden Harmonien nie ganz entrinnen können. Man muss nur genau hinhören und offen sein. Für den Durchschnitts-Radiohörer dürfte die LP allerdings eine Zumutung sein.
»Ganz unbeabsichtigt sind hier ganz schreckliche Metal-Platten, die ich in meiner Jugend gehört habe, wieder zu Tage getreten«, kommentiert Helm das düstere Krach-Erlebnis, das nicht nur erstaunlich weit weg davon ist, was er sonst als Kontrabassist in der Jazz-Szene mitverantwortet, sondern konträr zu seiner womöglich wichtigsten anderen Veröffentlichung des Jahres 2022 steht — Marek Johnson. Vorneweg erzählt Helm von einem neuerlichen Stimmungswandel: »Viel zu lange, habe ich Sachen zerredet. Jetzt möchte ich einfach mal machen.« Es gehe darum »Ja« zu sagen, wie der Gitarrist Bill Frisell, eine seiner Idole, propagiert habe. Dieses laute Bejahen hört man klarer denn je in seinem Projekt Marek Johnson.
Mit Jazz hat das gar nichts zu tun. Marek Johnson ist Singer/Songwriter-Pop, den Helm mit dem nötigen Maß an Ernsthaftigkeit betreibt, derweil aber auch einfachen Melodien und klassischen Popsong-Strukturen Platz gibt. Der Vergleich mit der englischen Gruppe Talk Talk und ihrem Kopf Mark Hollis, den Stadtrevue-Kollege Wolfgang Frömberg in den Liner Notes des Albums aufmacht, ist nicht von der Hand zu weisen.
»At Home Again, Singing«, so der Albumtitel, trägt den Gesang, den Helm sich nach den Erfahrungen im Chor so lange verkniffen habe, bereits im Namen. Darin erschöpft sich die Platte, die Infant-Finches-Drummer Jan Philipp produziert hat, aber nicht: Gefühlvolle, intime Songs, zehn an der Zahl, hat Helm aufgenommen. Geschickt wird Opulenz angedeutet, dann wieder fallengelassen; hier klingen Rufus Wainwright und Barock-Pop an, dann treffen Americana-Spuren auf New Romantics. Damit ist David Helm nicht nur ein großer Wurf gelungen, sondern auch einer, bei dem man bedenkenlos »Ja« sagen kann und gar nichts mehr zerreden muss.
Für jemanden, der zahllose Konzerte gib und pro Jahr etliche Platten aufnimmt, sollte das eigentlich gar keine Meldung sein, trotzdem legt er gleich nach: »Das Album aufzunehmen war so gut, dass ich eigentlich schon am nächsten sitze«, erzählt er mit glänzenden Augen. Sie zeugen jetzt davon, dass sich jemand mit alten Dämonen versöhnt hat.
Tonträger unter davidhelm.net