Kalle Kosmonaut
Kalle mit 10. Er ist oft allein. Seine Mutter arbeitet, sie lässt ihm Anweisungen für den Tag da, wenn sie geht, und spielt abends mit ihm Karten. Er geht Essen und Fußballspielen in der Arche, hängt auf dem Spielplatz herum. Seine Mutter fühlt sich schuldig, aber das Geld muss irgendwoher kommen. Kalle mit 17. Er lebt im Berliner Plattenbau, hat Drogen genommen und einen Menschen verletzt. Kalle heißt eigentlich Pascal, er ist ein reflektierter Junge, der rappen und zeichnen kann. Die Polizistin, die ihn festnimmt, findet ihn »zu intelligent, um ein Mitläufer zu sein«.
Die Filmschaffenden Tine Kugler und Günther Kurth haben Kalle mehrere Jahre begleitet. Sie lassen ihn als Kind, Jugendlichen und jungen Mann zu Wort kommen, zeigen ihn mit seiner Familie und im Freundeskreis, ohne zu kommentieren. Anstelle von dokumentarischen Erläuterungen werden die Szenen aus Kalles Leben mit Animationen von Alireza Darvish versetzt: symbolische Bilder wie aus Träumen und Illustrationen, wenn seine Briefe aus dem Gefängnis vorgelesen werden.
Ein Film, der einen Jungen beim Heranwachsen begleitet — »Kalle Kosmonaut« erinnert an Richard Linklaters »Boyhood«. Doch wo Linklaters Experiment mit Schauspieler*innen eine geschriebene Geschichte erzählt, zeigt »Kalle Kosmonaut« in einer kürzeren Zeitspanne ein echtes Leben, das über den Protagonisten hinaus etwas von deutscher Vergangenheit und Gegenwart erzählt. Der Vater im Gefängnis und die alleinerziehende Mutter arm. Die Großmutter, die vor den Schlägen des Ehemannes in den Alkohol floh. Der Großvater, der nach der Wende seine Arbeit verlor. Das Gefühl, abgehängt zu sein, teilt Kalle mit vielen jungen Menschen überall auf der Welt, das deutsche Publikum wird hier jedoch auch mit den Folgen sozialpolitischer Versäumnisse seit der Wiedervereinigung konfrontiert, die sich bis heute in Familien zeigen.
Kalle mit 19. Er ist raus aus dem Gefängnis und notgedrungen in dieselben beengten Verhältnisse zurückgekehrt. Er hat Schulden und keine Ausbildung. Seine Aussichten sind schlecht, das System ist fehlerhaft. Aber Kalle rappt immer noch, er hat jetzt ein Kind mit einer Frau, die er liebt. Die Menschen um Kalle lieben ihn, und er will ein besserer Vater sein als sein eigener. Vielleicht sind seine Aussichten nicht nur schlecht. Vielleicht schafft es Kalle hoch hinaus.
D 2022, R: Tine Kugler, Günther Kurth, 99 Min.