»Köln war wie Urlaub vom Krieg«
Dnipro befindet sich im Krieg. Doch auch im Krieg gibt es Werktage und Wochenenden, an denen man mit Familie oder Freunden zusammen ist. Es war ein Samstag, als am 14. Januar die russische Rakete mit einer Sprengkraft von rund einer Tonne in den Wohnblock einschlug. Die meisten Bewohner waren daheim.
Der Raketenangriff ist im Kölner Rathaus mit besonderer Bestürzung aufgenommen worden. Seit Oktober führen Köln und Dnipro eine sogenannte Projektpartnerschaft. Die Stadt liegt 400 Kilometer südöstlich von Kiew und ist wie Köln mit rund einer Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt des Landes. Was bedeuten die Angriffe auf eine befreundete Stadt für die Kölner Stadtspitze?
Anruf bei Andreas Wolter, Bürgermeister und einer von vier Vertretern der Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Der Grünen-Politiker ist mit Städtepartnerschaften befasst, von denen Köln seit dem Zweiten Weltkrieg rund zwei Dutzend eingegangen ist. Meist geht es um kulturellen und wirtschaftlichen Austausch. Im Fall von Dnipro ist alles anders. Kann Wolter einen Kontakt nach Dnipro herstellen? Wolter kann, zwei Tage später steht der Termin fürs Videogespräch mit Vize-Bürgermeister Volodymyr Miller.
Von Wolters Büro im Rathaus geht der Blick auf den Alter Markt. Es ist Dienstagmittag, unter den Passanten sind einige Karnevalisten, einer trägt die Uniform eines Traditionsvereins. In wenigen Tagen ist Karneval in Köln, 2000 Kilometer östlich in Dnipro ist Krieg.
Wolter blickt auf sein Tablet, die Videoschalte steht. Aber wo bleibt Volodymyr Miller? Ob alles okay ist? Wolter tippt in sein Smartphone »We are ready«. Wir warten. Dann erscheint Miller auf dem Display. Er erzählt, dass es vor wenigen Minuten einen Luftalarm gegeben habe. Neben ihm sitzen zwei Mitarbeiterinnen, die übersetzen. Miller spricht Ukrainisch und ein wenig Englisch. Er redet ruhig und gleichmäßig. Man meint in dieser knappen Stunde ständig die Trauer, den Trotz, aber auch die Wut zu spüren, wenn er von den Angriffen, der Zerstörung, den Toten erzählt. Die Frontlinie im Osten komme näher, sagt er. Man rechne damit, dass die russischen Truppen verstärkt würden. Glücklicherweise hätten die Angreifer aber kaum Möglichkeiten, noch mehr Raketen auf die Städte zu feuern. Sie konzentrierten ihre Kräfte auf die Truppen. Die hätten große Verluste, aber die Zahlen würden nicht in Russland bekanntgegeben, sagt Miller.
Wie hat sich sein Arbeitsalltag verändert? Schließlich war er auch mal Vizebürgermeister, ohne dass Raketen einschlugen. Miller amüsiert die Frage, lacht kurz, sagt dann, vor allem gebe es keinen festen Arbeitsplatz mehr, alle Unterlagen, Arbeitsmittel und das Personal seien über die Stadt verteilt, zur Sicherheit. Täglich müsse er die Stadt durchqueren, um die einzelnen Abteilungen der Verwaltung zu erreichen. Die erste Jahreshälfte habe man genutzt, um sich in militärische Themen einzuarbeiten, um sicherzustellen, dass die eigenen Kampftruppen alle Möglichkeiten haben, sich der Invasion entgegenzustellen. In der zweiten Jahreshälfte habe man sich dann mit der Lage in der Stadt befasst, denn die Regierung habe die Versorgung der Truppen übernommen.
Es gehe darum, den Zusammenbruch der Energieversorgung zu verhindern, um durch die schwierige Zeit des Winters zu kommen. Derzeit gebe es täglich zwei- bis dreimal Stromausfälle für mehrere Stunden. Den Menschen fehle dann nicht nur Elektrizität, sondern auch Warmwasser und der Zugang zum Internet. In Wohngebäuden ohne Anschluss ans Gasnetz könne dann nicht gekocht werden. Insbesondere für Familien mit Säuglingen oder Kleinkindern sei es schwierig.
Köln liefert Medizin, Busse, Rettungsdecken, Winterkleidung. Miller erwähnt auch die 136 Generatoren aus Köln, die in Dnipro in den sogenannten resilience centers untergebracht werden konnten, wo die Menschen während der Raketenangriffe Zuflucht finden oder während der Stromausfälle warmes Essen bekommen und ihre Mobiltelefone aufladen können, um weiter Informationen über die Lage zu erhalten; auch medizinische und psychologische Betreuung gibt es dort.
In wenigen Tagen ist Karneval in Köln, 2000 Kilometer östlich in Dnipro ist Krieg
Anfang Dezember vergangenen Jahres war eine Delegation in Köln zu Gast, um sich unter anderem über Fragen zur Energieeffizienz, Wasserversorgung und Abwasserreinigung auszutauschen. Es sind die Fragen, die Dnipro betreffen, weil die russischen Angriffe sich auch gezielt gegen die Infrastruktur und Versorgung richten. Wie war der Eindruck von Köln? »Für uns war das eine Insel des Friedens und fast wie ein klein wenig Urlaub vom Krieg«, sagt Miller. Er dankt Wolter noch einmal für die Gastfreundschaft und sagt, wie gut alles organisiert sei in Köln. So viele Komplimente bekommt ein Bürgermeister in Köln wohl selten zu hören. Wolter beeilt sich nun, zu sagen, dass Köln von Dnipro ebenso viel lernen könne, vor allem bei der Digitalisierung. Ukrainische Flüchtlinge wunderten sich oft, wie vieles sie auf Papier ausfüllen müssten, sagt Wolter. Alle lachen ein bisschen. Das Gespräch wird lockerer. Der Austausch nutze beiden Städten, so Wolter, aber es gebe auch neue Freundschaften dadurch. »Wir haben neue Freunde gefunden«, sagt Wolter. »Ganz genau«, antwortet Miller prompt und nennt Wolter »my new friend«.
Aber wie denkt Miller, könne eines fernen Tages wieder eine gute Nachbarschaft zu Russland bestehen? Miller lacht, aber diesmal amüsiert ihn die Frage nicht. Er sei überzeugt, dass es nie wieder die Nachbarschaft geben werde. Die Verbrechen der Nazis in der Ukraine hätten
im Zweiten Weltkrieg nicht das Ausmaß des russischen Militärs in der Ukraine erreicht. Was kann, was müsste man jetzt sagen? Während wir schweigen, setzt Miller, selbst Jude, noch einmal an: In den Städten, die von den russischen Truppen eingenommen worden waren, habe es kein Leben mehr gegeben. Putin wolle die Ukraine dem Erdboden gleichmachen, das gesamte Leben auslöschen. »Ich kann nicht sehen, dass es eine Zeit geben wird, wieder in guter Nachbarschaft mit Russland zu leben«, sagt Miller.
Es scheint Miller überhaupt schwer zu fallen, sich ein positives Bild der Zukunft auszumalen. Alles dreht sich darum, diesen Krieg zu überstehen, die Angreifer zurückzudrängen, die Stadt, das Land zu schützen. Wolter versucht es. Er werde nach dem Krieg in Dnipro mit Miller fischen gehen und sich für den Dnipro-Marathon anmelden, »zumindest den Halbmarathon«. Miller huscht ein Lächeln über das Gesicht, und dann sprechen wir noch darüber, dass Wolter und Miller zu Weihnachten Fotos vom Festessen per Handy ausgetauscht haben. Trotz der ständigen Stromausfälle gelang es Miller, einen Wildschweinbraten zuzubereiten. Es ist ein gutes Ende für ein Gespräch im Krieg. Wolter sagt noch, er würde sich freuen, Miller im März wieder zu treffen, es gebe eine Konferenz in Bonn und Köln. Ob Miller komme? Miller sagt, er freue sich darauf, werde der Einladung gern folgen. Falls alles gut geht bis dahin.