Saint Omer
»Saint Omer« wirft gezielt Fragen auf. Nach dem Motiv, das Laurence (Guslagie Malanda) dazu bewegt hat, ihre fünfzehn Monate alte Tochter umzubringen, indem sie sie den Fluten des Ärmelkanals überließ. Nach dem Grund, warum die Buchautorin und Universitätsdozentin Rama (Kayije Kagame) geradezu obsessiv den Mordprozess gegen jene junge Studienabbrecherin verfolgt, mit der sie allein das Geschlecht und die senegalesische Herkunft der jeweiligen Eltern teilt. Daran schließt sich wiederum die Frage an, welche Möglichkeiten zur Identifikation die geständige Angeklagte in einem allgemeineren Sinne bietet.
Dieser Aspekt verbindender Identität stand bereits im Zentrum von Alice Diops letztem Film, einer Doku, die das »Wir«, so ihr Titel, aus der Addition von Eindrücken verschiedenster Milieus und Einzelschicksale konstruierte. Dabei fasste die 1979 geborene Französin es als identitätspolitischen Schritt auf, durch Auftritte vor der Kamera auch sich selbst und ihre im Senegal geborenen Eltern ins französische Nationalkollektiv einzuschreiben. In Diops erstem Spielfilm wirkt nun indes Buchautorin Rama als alter ego der Regisseurin und Ko-Autorin, die nach eigenen Angaben besessen von der tatsächlichen Gerichtsverhandlung war, die 2016 im nordfranzösischen Städtchen Saint Omer stattfand.
Indem sie Rama früh einen von Marguerite Duras für »Hiroshima mon amour« verfassten Monolog kommentieren lässt, teilt Diop, die bisher stets dokumentarisch gearbeitet hat, uns auch die eigene Absicht mit, durch »erzählerische Kraft … die Wirklichkeit zu sublimieren.« Als zusätzliche Interpretationshilfen sind explizite Verweise auf die mythologische Figur der Medea zu verstehen, bevor das Schlussplädoyer des im Zentrum der Handlung stehenden Prozesses ein überraschend biologistisches Argument auf eine der offenen Fragen ins Feld führt.
Dabei verdankt sich die Faszinationskraft dieses Films jedoch dem Umstand, dass die präzise Inszenierung zugleich alle etwaigen Antworten nachhaltig untergräbt. So bleiben in den Dialogen, die offenbar auf den realen Prozessakten aufbauen, die vielen Widersprüche unaufgelöst, in die Laurence sich im Zeugenstand verstrickt. Statische, lange Einstellungen lassen der in zunehmend engeren Bildausschnitten eingefangenen Angeklagten bis zuletzt eine spröde Unergründlichkeit, die die Suche nach jeder Gemeinsamkeit reizvoll verkompliziert.
F 2022, R: Alice Diop, D: Guslagie Malanda, Kayije Kagame, Valérie Dréville, 122 Min.