Viel zu entdecken: Ausstellungsansicht »Unruly Kinships«; Foto: Simon Vogel

Verwandte unter Ameisen

Die Ausstellung »Unruly Kinships« in der Temporary Gallery erweitert den Verwandtschaftsbegriff

»Make kin, not babys«, »Macht keine Babys, macht euch verwandt« fordert Donna Haraway auf — provokativ, aber nicht humorlos. Die amerikanische Philosophin bereichert mit ihrem unkonventionellen Denken seit Jahrzehnten die Debatte, wie das (Zusammen-)Leben und Sterben der Arten auf dem gefährdeten Planeten Erde im Kapitalozän besser gelingen könnte.

Doch wie macht man sich mit anderen »verwandt«? Schon im vorigen Jahr hatte die Temporary Gallery dieses aktuelle Thema mit der Veranstaltungsreihe »Forms of Kinship« vorgestellt. Jetzt zeigt Jay Tan in der umfangreichen Gruppenausstellung »Unruly Kinships« — auf Deutsch etwa »Widerspenstige Verwandtschaft« — eine große Skulptur, die an einen vertikalen Schnitt durch ein Formicarium erinnert, einen künstlichen Ameisenbau. In den durch Gänge miteinander verbundenen Höhlen sind kleine Figuren von realen Personen zu sehen, die ebenfalls Tan heißen, aber nicht mit Jay Tan verwandt sind — darunter die Künst­lerin Fiona Tan, die Profigolferin ­Kelly Tan und der Profipokerspieler Jay Tan. Der Ameisenbau als gemeinsamer Wohnort dieser Wahlverwandten ergibt sich schlüssig aus dem Anagramm TANS/ANTS (Ameisen!). Nicht zuletzt spielt er auf die hohe Teamfähigkeit dieser Insekten an. Eine noch nähere Verwandtschaft mit Tieren erzeugt ­Robert Gabris mit seinen filigranen, an der Wand hängenden Hybridwesen, deren teils menschliche, teils tierische Körperteile durch Schnüre lose miteinander verknüpft sind.

Die Ausstellung reagiert mit zahlreichen Exponaten, die fast alle in den zurückliegenden zwei Jahren entstanden sind, auf die multiplen Krisen der Gegenwart. So gründete Pauline Curnier Jardin während des Corona-Lockdowns in Italien mit Prostituierten die Feel Good Cooperative, um ­deren Mitgliedern durch die Kunst­produktion eine alternative Einkommensmöglichkeit zu schaffen. Zu sehen sind ein dokumen­ta­risches Video, in dem die Koope­rative an der Aufbahrung des ehemaligen Papstes Benedikt XVI im Petersdom teilnimmt, und acht cartoonartige Radierungen, in denen dieses Erlebnis verarbeitet wird.


Die Ausstellung rechnet nicht dogmatisch mit der Kernfamilie ab, ­sondern zeigt, dass auch dieses  Modell
sich recyceln lässt

Im Booklet zur Ausstellung stützen sich die Kuratorinnen, Kris Dittel und Aneta Rostkowska, auf die amerikanische Philosophin Judith Butler, und appellieren an einen Gerechtigkeitssinn, der »Fürsorge, Liebe und Freiheit für alle« fordert. Das klingt beinahe zu gut, um realistisch zu sein. Schließlich ist die Suche nach Alternativen zur Kernfamilie und zur biologischen Verwandtschaft wohl so alt wie die Familie selbst, und sie geht nicht zwangsläufig gut aus. In der Kunstwelt ist die Kommune des Wiener Aktionisten Otto Muehl das vielleicht bekannteste Beispiel dafür, wie eine soziale Utopie scheitern und Gewaltverhältnisse reproduzieren kann.

Doch »Unruly Kinships« präsentiert — trotz der optimistischen Grundhaltung — nicht nur gelungene Beziehungswelten, sondern deutet auch Kehrseiten an. »Ich bin sehr verletzt«, lautet der Titel einer ruppigen Tuschezeichnung auf Papier von Nicole Baginski — ein Selbst­bildnis, in dem sich die Künstlerin zitternd und weinend darstellt. Anlass für das Bild war ein Konflikt mit einer geschätzten Kollegin, mit der sie im inklusiven Kunsthaus KAT18 zusammenarbeitet und die aufgrund ihrer Demenz abweisend auf sie reagiert hatte.

Zudem rechnet die Ausstellung nicht dogmatisch mit der Kernfamilie ab, sondern zeigt, dass dieses Modell recyclingfähig ist. Selma Selman ist eine Meisterin darin, Schrott in Gold zu verwandeln, auch im buchstäblichen Sinn. Im ersten Ausstellungsraum häufen sich zahllose Hauptpla­tinen von Computern. Mit mehreren Familienmitgliedern zerlegte Selman in den ersten Tagen der Ausstellung diese »Motherboards«, um aus ihnen Gold zu gewinnen. Ein Goldschmied wird daraus ­Ohrringe für ihre Mutter fertigen. Selmans bosnisch-herzogowinische Familie lebt vom Altmetallhandel, ihre Kunst dekonstruiert rassistisch diskriminierende ­Klischees ebenso befreiend wie ein Premiumauto in ihrem Performance-Video »Mercedes Matrix«. Gold findet sich auch im Werk von Clementine Edwards, die aus Fundstücken und Geschenken eine zerbrechliche Miniaturwelt baute. So entspricht die große Vielfalt der Vorstellungswelten und formalen Mittel in »Unruly Kinships« der Vielfalt der Krisen, auf die sie reagiert.

Temporary Gallery, Mauritiuswall 35, bis 30.4., Do–So 12–19 Uhr