Zwei Schwestern wie Sonne und Schatten
»Nichts würde ich lieber, als auch so was zu schreiben«, erzählt die junge Mary ihrer toten Mutter. »Ich hab’s auch schon mal versucht. Heimlich. Zu schreiben. Aber Mädchen können es nicht. Sagen alle«, fährt sie fort. »Ja, ich weiß, du denkst anders.« Und ob! Denn ihre Mutter, Mary Wollstonecraft, hat darüber ein Buch geschrieben: »Die Verteidigung der Frauenrechte«, erschienen 1792. Es gilt als eine der ersten feministischen Manifeste. Und ihre Tochter, nach deren Geburt sie starb, wird auch Literaturgeschichte schreiben. Als Mary Shelley veröffentlicht sie 1818 das erste Science-Fiction-Buch: »Frankenstein oder der moderne Prometheus«.
Die Entstehungsgeschichte dieses Buches zeichnet der Karlsruher Autor Markus Orths jetzt in seinem Roman »Mary & Claire« nach — aus der Perspektive von Mary Shelley und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont, die bis heute im Schatten ihrer berühmten Schwester steht. Beide haben keine Lust, sich den viktorianischem Ideal der Frau zu fügen, deren Reich das Haus ist. Als Kinder streunen sie abenteuerlustig durch die Straßen Londons, als junge Frauen entdecken sie die Liebe zur Literatur und zu deren Schöpfern. Claire macht Lord Byron auf sich aufmerksam, den romantischen Dichter, dessen Dandytum ihn zum Liebling der Salons machte. Und Mary verliebt sich in den Dichter und Revolutionär Percy Shelley. 1816 reisen die Vier an den Genfer See, als aufgrund eines heftigen Vulkanausbruchs im heutigen Indonesien der Sommer in Europa ausbleibt. An den Abenden erzählen sie sich Schauergeschichten, und als ihnen der Stoff ausgeht, erfindet Mary eine eigene: »Frankenstein«. Der Rest ist Literaturlegende.
In »Mary & Claire« steht jedoch die Beziehung der beiden Schwestern im Mittelpunkt. Wie »Sonne und Schatten« seien die beiden, sagt Mary an einer Stelle im Roman: Wo die eine ist, ist auch die andere. Und so widmet sich Orths dann auch ausführlich Claires Arbeit an ihrem ersten Roman »The Idiot«: »Claire rief: ›So könnte es gehen!‹ Rief es laut am Schreibtisch. Ließ den Stift fallen Klatschte in die Hände. Zackzack.« Doch diese Geschichte hat kein Happy End. Im Laudanum-Rausch lässt Claire das Manuskript von »The Idiot« in einen Brunnen fallen — das Buch ist für immer verloren.
Markus Orths hat mit »Mary & Claire« ein Liebesbekenntnis an das Schreiben verfasst, über den Wunsch, sich nicht der Ordnung der Welt und der Worte zu unterwerfen. Oder wie es Mary Shelley im Roman ausdrückt: »Schreiben, erfinden, erzählen, erschaffen. Und das als Frau. Gegen alle Regeln.«
Markus Orths: »Mary & Claire«, Hanser, 304 Seiten 26 Euro
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