Gegen den Strich
Die englischen Worte machine und cinema ergeben als Kofferwort zusammengezogen Machinima. »Maschinenkino«, das klingt nach dem frühen 20. Jahrhundert, nach Stahl, Öl und Lärm. Dabei handelt es sich hier um ein rein virtuelles Phänomen, bezeichnet man damit doch Filme, deren Handlung ausschließlich in den digital generierten Welten von Computerspielen stattfindet.
Was in den 90er Jahren beginnt als einfache Aufnahmen von besonders schnellen und gekonnten Durchläufen eines Spiellevels, entwickelt sich um die Jahrtausendwende zur Darstellung von Geschichten, die mit der eigentlichen Spielhandlung nichts oder nur entfernt etwas zu tun haben. Die Filmemachenden nutzen die billigen und einfachen Möglichkeiten, mit Hilfe von vorgefertigten animierten Settings und Figuren ihre Visionen zu verwirklichen (wer sich gewundert hat, warum es »Machinima« und nicht »Machinema« heißt, so wird auch noch das Wort »Animation« mit in den Koffer gepackt). Schnell entwickelte sich eine immens populäre Subkultur, die vor allem Gamer und verwandte Nerds anspricht.
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen widmen sich in ihrem großen Themenprogramm »Against Gravity. The Art of Machinima«, wie der Titel schon sagt, einer anderen Seite der Machinima-Kultur: Denn auch die Videokunst und Experimentalfilm-Szene hat schnell die faszinierenden Möglichkeiten entdeckt, in den immer realitätsnäheren Spiele-Umgebungen zu »drehen«. Dass dabei gewissermaßen auf Fertigteile zurückgegriffen wird, dürfte nur stören, wer mit seinem Kunstverständnis im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Die Nutzung von Ready-mades ist schließlich seit 100 Jahren in der Kunst etabliert; und die Kunst-Moderne wäre ebenso wenig denkbar ohne das Gegen-den-Strich-bürsten und -nutzen von Materialien und Werkzeugen (man denke nur an Pollocks Tropfbilder oder das obligatorische Gitarrenfeedback in der Rockmusik).
Die Machinimisten erzielen so oftmals verblüffend komische Ergebnisse. Marcel Duchamp veredelte ein Pissoir, indem er es in eine Galerie stellte, der Brite Sam Crane geht in »We Are Such Stuff as Dreams Are Made on« gewissermaßen umgekehrt vor: In der virtuellen Welt des Spiels Grand Theft Auto Online versucht sein Avatar Shakespeare vorzutragen — doch meist kommt er nicht weit, weil Mitspielende ihn über den Haufen schießen oder die Zuhörenden knallen sich gegenseitig ab.
High und Low mischen sich auf andere Weise in den verblüffend vielen Filmen, die Bezug nehmen auf verehrte Klassiker der filmischen Avantgarde: Aus Stan Brakhages »Window Water Baby Moving« wird »Windshield Baby Gameboy Movie«, aus Maya Derens »Meshes of the Afternoon« »Sidings of the Afternoon« (im pixeligen Minecraft-Setting), aus Andy Warhols berühmt berüchtigtem Achtstünder »Empire« »Rotterdam Tower« (benannt nach der Entsprechung zum Empire State Building in GTA IV).
Grundsätzlich geht es den Machinima-Künstlern aber weniger um Hommagen als um Subversion. Ein frühes Beispiel hierfür ist »Dance, Voldo, Dance« von Chris Brandt aus dem Jahr 2002: Zu Nellys Hit »Hot in Here« tanzen zwei mit Dreizacken bewaffnete Krieger in einem orientalischen Palast. Die eigentlich auf Kampfbewegungen programmierten Figuren legen hier einen homoerotischen Balztanz hin, bevor sie erschöpft in eine Art postorgiastischen Schlaf verfallen. Wesentlich fotorealistischer sind die Welten in »The Grannies« von Marie Foulston aus dem Jahr 2021. Einer Gruppe Gamer gelingt es hier mit einem Trick, jenseits der Grenzen der offiziellen Landkarte des Spiels »Red Dead Online« zu gelangen. Sie wandern durch seltsame Welten, in denen halbfertige Landschaften auf abstrakte geometrische Formen treffen und man die Berge von unten betrachten kann. Ein Landschaftsfilm von surrealer Schönheit.
Laut Angaben der Kurzfilmtage ist es das erste Mal, dass ein großes Filmfestival einen umfangreichen Überblick über Machinima. Der Zeitpunkt für solch eine Retrospektive ist passend, denn so futuristisch manche der Filme erscheinen mögen: Wir stehen an der Schwelle zu einer weit größeren Filmrevolution. Erste Start-ups bieten bereits AI-Software an, die innerhalb kürzester Zeit Filme lediglich aus Textbeschreibungen generiert — eine Technik, die dem Begriff camera stylo des Filmtheoretikers und -machers Alexandre Astuc einen neuen, wörtlichen Sinn gibt. Aber man kann sicher sein: Auch dieses neue Werkzeug werden Künstler subversiv gegen den Strich bürsten.
Bis Mo 1.5., Infos: kurzfilmtage.de