Trügerische Idylle: The Zone of Interest

Genie und Demut

Zwei herausragende Filme von Steve McQueen und Jonathan Glazer beschäftigen sich beim Filmfestivsl von Cannes mit den Verbrechen der deutschen Vergangenheit

Klar, Skandale gehören zu Cannes wie der rote Teppich, Palmen und Superyachten. Aber dieses Jahr wurden die ersten Tage des Festivals so bestimmt von multiplen Aufregern, dass die Filmkunst vollends in den Hintergrund zu rücken drohte. »Wife beater« Johnny Depp, so darf man ihn laut Gerichtsentscheid in Großbritannien nennen, auf dem roten Teppich; die Regisseurin des Eröffnungsfilms, die geradezu stolz darauf zu sein schien, einen Journalisten angespuckt zu haben; eine andere Regisseurin mit Film im Wettbewerb, die unangemeldet Sexszenen mit Minderjährigen gedreht haben soll; dazu noch ein Online-Ticketsystem, das arbeitete, wie der Türsteher eines besonders exclusiven Clubs.

Das in dem Getöse ein Meisterwerk wie Steve McQueens »Occupied City« unterging, war kaum verwunderlich, zumal er trotz der Prominenz des Oscargewinners nur als »Special Screening« präsentiert wurde. Und viele, die es ins Kino geschafft hatten, verließen den Saal auch bald wieder, was nicht nur an der Strenge des Konzepts des Films lag, sondern auch an seiner Länge von über vier Stunden.

Dabei gehört »Occupied City« zu jenen Filmen, bei denen Quantiät tatsächlich in wundersamer Weise nach einer Zeit in Qualität umschlägt. Sein Prinzip ist simpel: Eine Frauenstimme nennt aus dem Off eine Adresse in McQueens Wahlheimat Amsterdam und erklärt danach ebenso nüchtern, was hier während der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs passiert ist: Welche jüdischen Familien von hier aus in Konzentrationslager verschleppt wurden, aber auch, wer sich hier vor den Nazis verstecken konnte, wer verraten wurde oder wer Widerstand gegen die Deutschen leistete – und welche grausamen Konsequenzen meist darauf folgten.

Auf der Bildebene zeigt die Kamera von Lennert Hillege diese Orte in der Gegenwart, auch wenn die Häuser, um die es geht, zum Teil längst abgerissen sind. Manchmal betritt er Wohnungen, zeigt deren heutige Bewohner, manchmal bleibt er vor der Tür. Zunächst scheint es, als Folge »Occupied City« somit jenem mittlerweile inflationär in der Bildenden Kunst verwendeten Verfahren, Orte historischer Gräuel einfach nur im Jetzt abzubilden, um – ja, was eigentlich? – zu gedenken, einer unheilvollen Aura nachzuspüren oder umgekehrt, deren Banalität festzustellen?

Nach und nach enthüllt sich aber, dass McCarthy, ein anderes, viel spannenderes Projekt verfolgt. Dabei irritieren anfangs noch die immer wieder mehr oder minder indirekten Hinweise auf die während der Dreharbeiten stattfindende Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkung des öffentlichen Lebens. Denn wenn im Off von Gewalt und Unterdrückung durch die deutschen Besatzer gesprochen wird, dazu aber Bilder eines Protests gegen Coronamaßnahmen gezeigt werden, wirkt es, als wolle McQueen hier Parallelen ziehen zwischen Naziherrschaft und staatlichen Infektionsschutz. Es ist eine falsche Fährte, auf die »Occupied City« in der ersten Stunde lenkt. Denn mit der Zeit wird deutlich, dass es vielmehr darum geht, ein umfassendes Bild des gegenwärtigen Amsterdam zu zeigen, einer modernen multikulturellen Großstadt, in denen Coronaproteste ebenso stattfinden können wie Fridays-for-Future-Demos, Straßenfeste wie Musikvideo-Drehs, öffentlichen Zeremonien wie privates Gedenken. Und so wird die Text-Bild-Schere immer größer: Je deprimierender die Aufzählung auf der Tonebene wird, umso vielfältiger, offener, reicher erscheint die Gegenwart – ohne dabei bestehende Probleme auszublenden. Wir sind in den letzten 70 Jahren weit auf dem Weg zu einer offeneren Gesellschaft gekommen, scheint »Occupied City« zu sagen. Und so ist McQueen ein Film gelungen, der zugleich zutiefst deprimierend ist und unglaublich hoffnungsvoll. Ein Film gegen politischen Defätismus, wie es ihn selten gegeben hat.

Es war aber ein anderer Film über die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus, der dem Festival von Cannes endlich eine breite Diskussion über filmische Formen bescherte. Ein Film, der, das sei am Rande bemerkt, ebenso wie »Occupied City« ohne deutsches Geld entstanden ist. Jonathan Glazers »The Zone of Interest« trägt zwar den Titel eines historischen Romans von Martin Amis (der tragischerweise am Tag der Weltpremiere des Films verstarb), ist aber eher eine freie Interpretation von dessen Figuren und Setting. Im Mittelpunkt stehen Rudolf Höß (Christian Friedel) und seine Frau Hedwig (Sandra Hüller). Höß leitet die Ermordung der Juden in Auschwitz, das Konzentrationslager zeigt Glazer aber nie von innen, stattdessen konzentriert sich der Film auf das Privatleben der Familie Höß in ihrer großen, aber schlichten Villa, die direkt neben dem Lager liegt.

Hedwig hat aus dem großen Garten ihr privates »Paradies« gemacht mit Gemüse- und Blumenbeeten, kleinem Pool und Gewächshaus. Ein ganz normales Familienleben könnte man auf den ersten Blick meinen, wenn da nicht die stacheldrahbewährte Mauer um das Lager wäre, die den Garten begrenzt, der Blick auf die Wachtürme und der Rauch der Öfen. Was aber mehr als alles andere auf einer fast unbewussten Ebene deutlich macht, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt, ist der immer präsente Sound des Leids und der Vernichtung – ein ewiges hintergründiges Rumoren, aus dem man immer wieder Schüsse und Schreie zu vernehmen meint und das Lodern des Todesfeuers. Die bürgerliche Idylle bekommt ihre Risse, als Höß nach Oranienburg versetzt wird, sich seine Frau aber weigert, ihr so liebevoll arrangiertes häusliches Idyll zu verlassen. Hedwig will unter keinen Umständen weg aus Auschwitz.

Glazer belässt es nicht bei diesen kühl beobachteten häuslichen Szenen, die ohne Nahaufnahmen der Darsteller auskommen, sondern interveniert immer wieder auf der Ton- und Bildebene: So werden zum Beispiel die Träume einer der Töchter der Familie Höß als schwarzweiße Negativbilder gezeigt, in denen sie Äpfel in einen Graben steckt. Nahrung für die hier verscharrten Toten? Am wichtigsten sind aber dokumentarische Aufnahmen aus der heutigen Auschwitz-Gedenkstätte. Sie zeigen die Öfen, aber auch die Tausende von Schuhen der ehemaligen Lagerinsassen, die dort ausgestellt werden, um einen Eindruck von der Masse der ermordeten Menschen zu geben.

Diese nichtfiktionalen Sequenzen geben dem Film eine dringend benötigte Erdung. Denn so bedrückend und unangenehm »The Zone of Interest« notwendigerweise sein muss, er ist gerade in der ersten Stunde auch auf eine perverse Art »genießbar«, ja »bewundernswert«. Hier ist ein zweifelsfrei brillanter Regisseur am Werk, der mit seinem ebenso brillanten Team – besonders Kamera, Ton, Musik (die geniale Mica Levi) – mit viel Selbstbewusstsein ein großes Kunstwerk schaffen will – aus dem Schicksal von sechs Millionen ermordeter Menschen. Die schlichten Aufnahmen der Überreste des realen Auschwitz geben gegen Ende »The Zone of Interest« eine Ahnung von Demut, ohne die dieser herausragende Film unerträglich wäre.