»Für viele Kinder ist es tatsächlich so«
Frau Werner, die Protagonistin Ihres Kinderbuchs »Silberregen glitzert nicht« heißt Emely, ist selbsternannte »Königin der Halfpipe« und hat ein Geheimnis: Ihre Mutter ist tablettenabhängig, kommt morgens schlecht aus dem Bett und ist manchmal stundenlang nicht ansprechbar. Wie sind Sie darauf gekommen?
Die Idee zum Buch hatte ich bereits vor zehn Jahren: Da war auf einmal dieses Mädchen in meinem Kopf, ihre Lebenssituation, ihre innere Zerrissenheit. Emelys Sorge um ihre Mutter, ihr starker Wille, die Familie zu schützen und alles dafür zu tun, die Suchterkrankung vor anderen geheim zu halten. Und dann die vielen fröhlichen Momente, die sie erlebt — etwa mit ihrem besten Freund Mathis. Ich gebe zu, es ist ein schwieriges Thema für ein Kinderbuch. Aber es ist traurige Realität für viele Kinder: Schätzungsweise drei Millionen Kinder in Deutschland wachsen in suchtbelasteten Familien auf. Und auch sie sollten sich in Büchern wiederfinden können.
Wie sind Sie bei der Recherche für das Buch vorgegangen?
Ich habe viel Fachliteratur gelesen, auch Bücher von Autorinnen und Autoren, die selbst in Familien mit Suchterkrankungen aufgewachsen sind. Und dann, schon sehr früh, hatte ich Kontakt zu dem Kölner Projekt »KidKit«. Es ist angeschlossen an die Drogenhilfe Köln e.V. und bietet seit vielen Jahren anonyme Online-Beratungen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien an. Ich habe viel mit den Mitarbeiterinnen geredet. Vor allem von Kristin Frank habe ich noch einmal viel über die Strukturen in den Familien erfahren und über die Muster, die es dort häufig gibt.
Welche Muster sind das?
Meine Protagonistin Emely zeigt ein typisches Verhalten: Sie ist erst zwölf Jahre alt, übernimmt aber die Verantwortung eines Erwachsenen. Sie kümmert sich morgens vor der Schule um ihre kleinen Geschwister, wenn ihre Mutter mal wieder nicht aus dem Bett kommt. Emely hält die Familie zusammen und die Fassade aufrecht — auch weil sie sich für die Situation schämt. Nichts darf nach außen dringen, in der Schule nicht, bei Freundinnen und Freunden nicht. Die Suchterkrankung ist ein Familiengeheimnis. Die Sucht und das Tabu prägen Emelys Alltag. Und für viele Kinder ist das tatsächlich so.
Das klingt auch nach einem sehr belastenden Schreibprozess.
Es war in der Tat manchmal anstrengend, mich in das Wechselbad der Gefühle meiner Protagonistin hineinzudenken. Emelys Wohlbefinden hängt ja immer vom Zustand ihrer Mutter ab, die sie ja auch sehr liebt: Emely möchte, dass sie wieder gesund wird. Aber da ist immer auch die Angst: Wie werde ich Mama vorfinden, wenn ich aus der Schule zurückkomme? Hat sie sich erholt? Dämmert sie weiter vor sich hin? Aber es gibt auch viel Leichtigkeit im Buch, herrlich unbeschwerte Momente in Emelys Leben. Etwa wenn sie mit ihrem Board durch den Skatepark saust, wenn sie mit Mathis herumalbert — und, ganz wichtig, auch dann als sie über ihren Schatten springt und sich ihm anvertraut.
Durch den Roman zieht sich als roter Faden auch eine Quiz-Show. Welche Rolle übernimmt sie in der Handlung?
Emelys Mutter liebt Quiz-Shows. Und zusammen mit ihrer Mama Quiz-Shows gucken und rätseln, das war früher für Emely das Größte. Das ist eine tiefe emotionale Verbindung. Im Buch setze ich Quiz-Fragen so ein, dass sie einerseits die Leserinnen und Leser — hoffentlich — zum Lachen bringen. Und andererseits zum Nachdenken anregen und für Emelys Situation sensibilisieren. Bei Lesungen aus dem Roman kann ich Kinder dadurch auch gut einbeziehen, und ich bin begeistert, wie einfühlsam sie auf die Geschichte reagieren. Ein Kind beschrieb Emelys Situation ganz konkret als »schweren Rucksack«, den sie zu tragen hat. Und das ist schön, wenn darüber Verständnis entsteht für andere und genauer hingeschaut wird. Und wenn betroffene Kinder erfahren: Ich bin nicht allein.
Christine Werner: »Silberregen glitzert nicht«, Mixtvision 2023, 208 Seiten, 16 Euro
Infos zum Projekt »KidKit« auf: kidkit.de