Licht in die Nischen
Von dem Gesprächseinstieg, dass man ihn für einen der »most underrated« Musiker Kölns halte,
ist Kay Lehmkuhl ein wenig überfordert. Irgendwie verständlich, denn der aus Bocholt stammende Mittvierziger hat es sich seit Jahrzenten mental in der Nische gut eingerichtet: Mit seiner Langzeitband Tulp beackert er seit über 20 Jahren abseitige, an die Hamburger Schule grenzende Felder, und steht dabei in Geistesverwandtschaft zu anderen Insider-Acts wie Porf, Pendikel oder Kante. Aber auch mit seiner Zweitband, den 2016 gegründeten Alpentines, die auf deutlich gefälligere Weise Britpop und Progrock miteinander kombinieren, hat er bislang noch keine breitere Öffentlichkeit erreicht — trotz eines Outputs, das auf musikalischer Augenhöhe mit Global Playern wie Elbow oder Radiohead rangiert.
Lehmkuhl stapelt lieber tief und sucht die Gründe für den ausbleibenden Ruhm eher bei sich selbst als bei den Verhältnissen: »Ich habe mich immer irgendwie in den Nischen bewegt, ich hatte auch nie den Plan, davon leben zu können oder ein Popstar zu werden. Man muss ja auch ganz klar sagen, dass das Talent dafür nicht reicht. So im Hintergrund arbeiten und Songs schreiben, das geht, glaube ich, ganz gut, sobald ich aber selber auf die Bühne gehe, fehlt einfach tatsächlich noch ein bisschen was, vielleicht auch die Bereitschaft bei mir, mich wirklich zu zeigen.«
Das mit dem unzureichenden Talent sei dahingestellt, offenkundig ist aber, dass es Lehmkuhl mit seinem neuen Soloprojekt Minus Kle gelungen ist, die Fenster noch einmal richtig weit zu öffnen: Die fünf Songs der soeben erschienenen, selbstbetitelten Debüt-EP des Projektes könnten trotz ihrer experimentellen, in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Boris Rogowski entstandenen Arrangements als lupenreiner Pop bezeichnet werden. Nicht nur das: In ihrer ästhetischen Zeitgeistigkeit sind sie ganz klar im Hier und Jetzt verortet. Im Kern handelt es sich um Hook-basierte Folk-Pop-Songs, geschrieben auf der Akustikgitarre und getragen von Lehmkuhls beeindruckend sattem und versiertem Gesang, die in der Produktion dann aber elektronisch aufgebrochen wurden. Beim Hören springt die Referenzmaschine sofort an: Man denkt an 80er-Jahre-Pop im Geiste von Peter Gabriel oder Nick Kershaw, entdeckt Bezüge zu den Nuller-Jahren (Nelly Furtado), fühlt sich erinnert an die populären Avantgarde-R&B-Entwürfe von Frank Ocean oder Kendrik Lamar bzw. an den Progressive-Folk von Bon Iver und landet — auch dank der etwas enervierenden Autotune- und Harmonizing-Effekte — in den aktuellen Charts. Erstaunlicherweise klingt das Ergebnis aber nicht nach Kraut und Rüben, sondern überzeugt in seiner Mehrdimensionalität auf ganzer Linie. Erstaunlich, was man alles in fünf Songs packen kann, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Hier ist nicht nur Songwriting-Stärke am Start, sondern auch ein äußerst hohes Kurationsvermögen.
Auch wenn die EP womöglich im Nirvana der Streaming-Plattformen weitgehend unbemerkt verglühen wird, so hätte sie es doch verdient, als heller Stern am Firmament des globalen Pop-Universums strahlen zu dürfen. Dem bescheidenen Künstler selbst liegen derart großspurige Ambitionen eher fern: »Mir ist das Ergebnis eines Songs, einer EP oder eines Albums fast weniger wichtig als der Entstehungsprozess. Ich mag dieses freie Feld vor mir, alles auf Null zu setzen und vor allem diesen ersten Augenblick zu haben, wenn nichts da ist. Das, was dann kommt, das ist für mich eigentlich die größte Beglückung.«
Auch wenn der Erfolg weiterhin nicht im Vordergrund steht, so hat sich doch im Laufe der Zeit das Selbstbild Lehmkuhls verändert: »Es gibt einfach diesen totalen Drang, das zu tun, das habe ich mir auch viele Jahre lang mit Familie und Brotjob nicht so richtig eingestehen wollen: Ich bin halt Musiker, und eigentlich begreife ich mich auch als Künstler, auch wenn das in Deutschland für alle irgendwie immer ein bisschen suspekt ist, wenn man das von sich selber sagt. Es gibt einfach wenig Wertschätzung dafür. Aber das ist mir jetzt alles total egal.« Welch ein Glück. Bitte weitermachen!
Tonträger: »Minus Kle« ist bereits digital erschienen (Self Release)